Entwurf_Titel_2 1..1 - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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MN ANWALTSTAG 2004<br />
Sicherheit und Ordnung auf<br />
Kosten der Freiheit?<br />
Festvortrag von Dr. Heiner Geißler,<br />
Bundesminister a.D., auf der<br />
Zentralveranstaltung des 55. Deutschen<br />
Anwaltstags am 21. Mai 2004 in Hamburg<br />
Sehr geehrter Herr Kilger,<br />
meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
ich bedanke mich für die Begrüßung und für die Einladung.<br />
Ich fühle mich wohl bei Ihnen, nicht nur als einer<br />
der schon mehrfach zitierten Einheitsjuristen, zu denen ich<br />
mich auch zähle. Ich bin, wie der eine oder andere von Ihnen<br />
weiß, auch noch Vorsitzender des Kuratoriums Sport<br />
und Natur, zu dem alle Sportverbände, die Sport in der Natur<br />
ohne Motorhilfe treiben, gehören. Einer der führenden<br />
und tragenden Verbände dieser über fünf Millionen zählenden<br />
Dachorganisation ist der DAV, allerdings nicht Ihr DAV,<br />
sondern der Deutsche Alpenverein. Ich habe natürlich nie<br />
den Deutschen Alpenverein mit dem Deutschen <strong>Anwaltverein</strong><br />
verwechselt. Aber auch beim Klettern und Bergsteigen<br />
sind alle drei Begriffe unseres Themas von Bedeutung:<br />
Man braucht Sicherheit, man muss bestimmte Regeln beachten,<br />
man braucht auch die Freiheit. Die Freiheit z. B.<br />
umzukehren, wenn das Wetter schlecht wird.<br />
Die Dringlichkeit der Frage unseres Themas hat seit der<br />
Eskalation des Terrorismus am 11. September 2001 dramatisch<br />
zugenommen. Die indische Bestseller-Autorin Arundhati<br />
Roy hat zum großen Ärger der Amerikaner und vieler<br />
anderer untersucht, ob der Terrorismus nicht ganz andere<br />
Ursachen habe. Ist er nicht tatsächlich die Antwort auf eine<br />
schon vorher in Unordnung geratene Welt, eine Welt der<br />
Armut, mit 2,6 Milliarden Menschen, die pro Tag weniger<br />
zum Leben haben als den Gegenwert von 2 $, und deren<br />
Zahl nicht abnimmt, sondern zu, – eine Welt eines kapitalistischen<br />
Wirtschaftssystems, eine Welt der Unterdrückung<br />
und Diskriminierung von Milliarden von Menschen, einer<br />
kriminellen Ausbeutung der Natur, aber auch einer Welt der<br />
Überforderung von Milliarden von Menschen durch die<br />
technologische Revolution, die auch mangels Information<br />
von Ihnen nicht als Segen sondern als Bedrohung der westlichen<br />
Zivilisation empfunden wird.<br />
Das ist eine nur unzureichende Umschreibung der Situation,<br />
in der wir uns befinden. Die so auch nicht geeignet<br />
ist, für die Zukunft große Erwartungen und Hoffnungen zu<br />
begründen, wenn wir so weitermachen. Und gerade weil<br />
viele junge Menschen auch zu Ihrem Verein gehören, junge<br />
Anwälte, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass ihre<br />
Zukunft davon abhängt, wie sich die Weltpolitik, aber davon<br />
abhängig auch die nationale Politik, weiterentwickelt.<br />
Das ist kein Naturgesetz, sondern hängt davon ab, wie politisch<br />
entschieden wird.<br />
Die Soziale Marktwirtschaft ist im Zonenwirtschaftrat<br />
1947 mit einer Stimme Mehrheit durchgesetzt worden. Mit<br />
einer Stimme! Es hätte genauso gut andersherum gehen<br />
können. Jeder von Ihnen kann sich ausrechnen, wie dann<br />
die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gewesen<br />
wäre. Es war die Kombination eines richtigen Konzepts<br />
AnwBl 8 +9/2004<br />
verbunden mit dem Mut derjenigen, die die Verantwortung<br />
hatten, eine solchen Entscheidung auch durchzusetzen. Wir<br />
sind nicht die Gefangenen irgendwelcher Naturgesetze, denen<br />
wir ausgeliefert wären.<br />
Die Antwort der westlichen Demokratien auf das, was<br />
ich gerade zugegebenermaßen noch unzureichend beschrieben<br />
habe, lautet im Moment ökonomisch: shareholder value,<br />
geopolitisch: Krieg und innenpolitisch: Einschränkung<br />
des Rechtsstaats. Der langjährige Berater von Bill Clinton,<br />
Professor an der University of Maryland Benjamin Barber,<br />
hat in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“<br />
unlängst die globalisierte Ökonomie „eine Welt der Anarchie“<br />
genannt. „Eine Welt ohne Regeln, ohne Gesetz, ohne<br />
soziale Übereinkünfte. Eine Welt in der Unternehmen, Finanzinstitute<br />
und der gesamte private Sektor völlig unreguliert<br />
agieren können. Aber auch eine Welt, in der Terroristen,<br />
Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden<br />
Die wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
spiegeln die Anarchie der globalen<br />
Ordnung wider<br />
arbeiten“, ja sogar die Terroristen sind Teil dieses gigantischen<br />
Finanzsystems mit einem börsentäglichen Umsatz<br />
von 2 Billionen Dollar, wobei das noch gar nicht ausdrückt,<br />
was eigentlich los ist, vielmehr werden innerhalb dieses einen<br />
Tages noch einmal Hunderte von Milliarden Dollar<br />
hin- und hergeschoben, innerhalb von wenigen Stunden,<br />
um noch einmal Hundertstel von Prozentpunkten Gewinne<br />
herauszuholen. In rechtsstaatlichen Verhältnissen, so sagt<br />
Barber, wäre dies unmöglich. Aber diese Verhältnisse wirken<br />
massiv auch in unsere Gesellschaft hinein. Sie spiegelt<br />
die Anarchie der globalen Ordnung wider, die eigentlich<br />
eine Unordnung ist.<br />
Sie bedeutet aber die Zerstörung der Freiheit von immer<br />
mehr Menschen. Die amerikanische und die britische Regierung<br />
haben im Irak-Krieg fast alle völkerrechtlichen<br />
Grundsätze, die bisher für die Anwendung von Gewalt zwischen<br />
den Staaten maßgeblich war, aufgegeben. Die<br />
größten Geister der Menschheit von Cicero bis Kant haben<br />
sich mit der Frage beschäftigt: Wann darf ein Staat gegen<br />
den anderen Gewalt anwenden?<br />
Es muß eine „justa causa“ vorliegen, die Anwendung<br />
muss die „ultima ratio“ sein, man braucht eine „recta intentio“<br />
und ein „jus in bello“. Das war die vierte Bedingung.<br />
Zur „justa causa“: Also die Massenvernichtungswaffen<br />
sind nicht gefunden worden, dafür wurde ein Diktator beseitigt.<br />
Das ist sicherlich ein ordentlicher Grund. Ein Diktator<br />
weniger ist immer besser als ein Diktator zuviel. „Ultima<br />
ratio“ war es mit Sicherheit nicht, wie wir jetzt<br />
wissen. Man hätte die UNO ja noch weiterarbeiten lassen<br />
können. Man wollte es nicht.<br />
Zur „recta intentio“: Eine politische Konzeption war<br />
überhaupt nicht vorhanden, wie wir wissen. Die alten Jesuiten<br />
haben beim Tyrannenmord, den sie begründet haben,<br />
auch unter ähnlichen Bedingungen gesagt, es müsse eine<br />
Wahrscheinlichkeit bestehen, dass, wenn der Tyrann tot ist,<br />
die Bedingungen für die betroffenen Menschen wenigstens