Entwurf_Titel_2 1..1 - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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MN<br />
keitsschutz, das heißt das Recht jedes Einzelnen, grundsätzlich<br />
darüber selbst entscheiden zu können, wer, wann, was<br />
über ihn, über mich, wissen darf. Das ist Datenschutz und<br />
nicht Täterschutz. Leider bleibt von diesem Persönlichkeitsschutz<br />
immer weniger übrig. Die Antiterrorgesetze, die verabschiedet<br />
worden sind, gehören noch einmal auf den<br />
Prüfstand. Selten war ein Gesetzentwurf so vernichtend beurteilt<br />
worden, wie der für dieses Gesetz. Die juristische<br />
Prüfung durch das dafür zuständige Bundesjustizministerium<br />
war vernichtend. „Rechtsstaatlich problematisch“,<br />
„verfassungsrechtlich bedenklich“ lautete fast durchgängig<br />
die Beurteilung. Bisherige unverzichtbare rechtsstaatliche<br />
Grundsätze werden unter der geistigen Führung der amerikanischen<br />
Administration gefährdet. Dieses Denken findet<br />
inzwischen seinen Niederschlag auch in der Novellierung<br />
des Ausländerrechts. Welche Grundsätze werden in Frage<br />
gestellt? Öffentlichkeit des Strafverfahrens, die Trennung<br />
von Sicherheitsbehörden und geheimen Sicherheitsinstitutionen.<br />
Dabei wollten wir doch niemals mehr eine geheime<br />
Staatspolizei haben. Der Unterschied zwischen Polizei und<br />
Geheimdiensten besteht eben darin, dass die Polizei von<br />
der Justiz kontrolliert wird, der Geheimdienst aber von einem<br />
geheim tagenden Parlamentarischen Miniausschuss,<br />
der aber seinerseits zum Schweigen verurteilt ist.<br />
Was wird nicht mehr gewährleistet sein, wenn wir diesem<br />
Trend folgen? Die alsbaldige Kontrolle von Verhaftungen<br />
und sonstigen Grundrechtseingriffen durch unabhängige<br />
Richter. Das Recht auf Akteneinsicht. Das Recht auf<br />
freie Wahl eines Verteidigers. Das Recht, überhaupt einen<br />
Verteidiger zu haben. Die öffentliche Beweisführung. Der<br />
Grundsatz, im Zweifel für den Angeklagten, bei den Ausländern<br />
schon umgedreht. Die Gleichheit vor dem Gesetz.<br />
Das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden, wie wir ja<br />
jetzt erfahren haben. Der Grundsatz des fairen Verfahrens.<br />
Die Genfer Konvention über die Behandlung von Gefangenen.<br />
Weltweit wird damit begonnen, all das unter Vorbehalt<br />
zu stellen und dieser Vorbehalt lautet: Der rechtsstaatliche<br />
Katalog ist schön und gut, aber nur solange er die Bekämpfung<br />
des Terrorismus nicht behindert. Vogelfrei nannte man<br />
eine solche Situation im Mittelalter und in den Vereinigten<br />
Staaten ist dieser Zustand bereits eingeführt. Acht, Bann<br />
und Rechtlosigkeit für verdächtige Ausländer – wollen wir<br />
das auch? Guantanamo ist das schreckliche Beispiel für institutionalisierte<br />
Rechtlosigkeit, die allerdings jetzt (sehr<br />
spät) durch das oberste amerikanische Gericht korrigiert<br />
worden ist. Was die Foltervorwürfe betrifft, wird jetzt einzelnen<br />
Soldaten der Prozess gemacht. Aber die Legitimierung<br />
des rechtslosen Zustandes der Gefangenen in Guantanamo<br />
und in anderen Gefängnissen, die Legitimierung<br />
dieses Bruchs der amerikanischen Verfassung und der Genfer<br />
Konvention, die Verwendung einer brutalen Jäger- und<br />
Kriminellensprache in den Reden führender Vertreter der<br />
amerikanischen Regierung unter Übernahme von Texten<br />
aus dem Mafia-Millieu aus Chicago von Al Capone, und<br />
das Aufheizen eines nationalistischen Klimas durch die<br />
konservative Presse, sie alle haben in Amerika, wie die aufmerksamen<br />
und objektiven Beobachter inzwischen übereinstimmend<br />
festgestellt haben, einen Geisteszustand in der<br />
amerikanischen Öffentlichkeit geschaffen, in dem Soldaten<br />
und Polizisten unten an der Front bei ihren Misshandlungen<br />
jedes Unrechtsbewusstsein abhanden gekommen ist, soll<br />
man sagen, abhanden kommen musste.<br />
Nicht die Einzeltäter, die jetzt angeklagt werden, sondern<br />
die politischen und journalistischen Meinungsführer<br />
tragen die Verantwortung für das moralische Desaster, das<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
durch diese Vorgänge die gesamte westliche Welt erfasst<br />
hat. Das müssen Sie natürlich nicht übernehmen, was ich<br />
jetzt sage, aber der größte Triumph der Terroristen besteht<br />
ja nun darin, dass sich die westliche Führungsmacht, zumindest<br />
in den Augen der Öffentlichkeit, auf eine Stufe mit<br />
den Schurkenstaaten gestellt hat, die sie angeblich bekämpfen<br />
will. Aber wir brauchen eine Rettung. Und die Rettung<br />
kann eigentlich nur vom amerikanischen Volk selber kommen.<br />
Die Amerikaner müssen im Herbst die jetzige Regierung<br />
abwählen.<br />
Die Repressionspolitik der US-Administration führt ja<br />
auch intern zu keinen großen Ergebnissen. Auf 100.000<br />
Einwohner kommen in Amerika inzwischen zwölf Kapitalverbrechen.<br />
In Deutschland sind es noch zwei. Das amerikanische<br />
Erziehungsministerium hat neulich bekannt gegeben,<br />
dass 25 % der Amerikaner Analphabeten sind und<br />
das hat natürlich seine Gründe. Eine Zwei-Drittel-Gesellschaft<br />
produziert Kriminalität und Analphabetentum. In<br />
den USA ist die Inhaftierungsquote in den letzten 20 Jahren<br />
um 400 % gestiegen. Über 5 Millionen Amerikaner sitzen<br />
in Haft oder stehen unter Bewährungsaufsicht. Der Kriminologe<br />
Michael Lindenberg hat einmal ausgerechnet, dass,<br />
wenn die Inhaftierungsrate in Amerika linear weiter anstiege,<br />
im Jahre 2050 die Hälfte der US-Bürger hinter Gittern<br />
säße und von der anderen Hälfte bewacht würde.<br />
Was ist zu tun? Ich glaube, wir sollten bei der Bekämpfung<br />
des Terrorismus nicht auf polizeiliche Maßnahmen<br />
verzichten, das wäre völlig falsch. Ich habe auch dafür gestimmt<br />
und halte das nach wie vor für richtig, dass deutsche<br />
Soldaten in Afghanistan sind, und den Terrorismus dort bekämpfen<br />
als eine Art Weltpolizei. Aber es wird nichts<br />
nützen, wenn sich die politischen und ökonomischen Bedingungen<br />
nicht verändern. Ich war der erste Abgeordnete, der<br />
nach dem 11. September in Kabul war. Als ich zurückkam,<br />
haben die Kolleginnen und Kollegen mich in Berlin gefragt:<br />
Sagen Sie mal, lebt der Osama Bin Laden noch? Das kann<br />
ich nicht sagen, war meine Antwort, ich bin ihm nicht begegnet.<br />
Aber ich weiß das eine, dass der Osama Bin Laden<br />
in den Köpfen und in den Herzen von Hunderten von Millionen<br />
Menschen lebt, in den Armutsvierteln und in den<br />
Was ist zu tun? Die politischen<br />
und ökonomischen Bedingungen<br />
müssen sich ändern<br />
Elendsquartieren von Indonesien, Pakistan, Bangladesch,<br />
Afghanistan, Iran, Irak, Jemen, Palästina, Jordanien, Somalia,<br />
Sudan, Ägypten bis nach Algerien, wo 90 % der jungen<br />
Leute arbeitslos sind. Und wenn 90 % der jungen Leute<br />
null Perspektive haben für ihr irdisches Leben, um mal einen<br />
Mullah-Begriff zu verwenden, werden sie leicht das<br />
Opfer der islamistischen Heilsversprechen. Die Amerikaner<br />
können noch einen Krieg führen. Wir können noch<br />
mehr Soldaten nach Kabul schicken. Es wird keinen Wert<br />
haben. Warum? Weil nur Narren und Lügner uns weismachen<br />
können, man könne auf Dauer Hunderte von Millionen<br />
Menschen ausgrenzen, ohne dafür nicht irgendwann einen<br />
politischen Preis zahlen zu müssen.<br />
Es gibt in der Politik keine überflüssigen Menschen, sie<br />
haben alle eine Stimme. Wenn sie in keiner Demokratie leben<br />
und keine Stimme haben, dann werden sie oder ihre<br />
geistigen Führer sich Waffen besorgen, und wenn es fliegende<br />
Kerosinbomben sind oder Handgranaten, die dann