Entwurf_Titel_2 1..1 - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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MN<br />
xime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen<br />
Gesetzgebung gelten könnte.“ Nur hilft das nicht<br />
viel weiter, weil die Frage, ob die Maxime, die ich für richtig<br />
halte, auch geeignet ist, von anderen als allgemeiner<br />
Grundsatz akzeptiert zu werden, möglicherweise der Bundesinnenminister<br />
anders beantworten wird als Heribert<br />
Prantl von der Süddeutschen Zeitung, Alice Schwarzer anders<br />
als die Taliban, der Papst anders als der amerikanische<br />
Präsident und Matthias Herdegen zu Art. 1 im Maunz-<br />
Dürig-Kommentar anders als vor 40 Jahren mein Doktorvater<br />
Günter Dürig.<br />
Aber all diesen unterschiedlichen Antworten liegen unterschiedliche<br />
Antworten zugrunde auf die Frage: Was ist<br />
der Mensch, oder wer ist überhaupt ein Mensch?<br />
Was ist der Mensch? Je nach Antwort<br />
hat dies politische Konsequenzen<br />
Von der Antwort darauf bestimmt sich die Ordnung, in<br />
der wir leben. Und denken Sie ja nicht, das sei eine Diskussion<br />
würdig eines Rechtsseminars oder einer philosophischen<br />
Vorlesung. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet<br />
wird, hat dies knallharte politische Konsequenzen.<br />
Karl Marx hat in einer seiner frühen Schriften zur Judenfrage<br />
gesagt: Der Mensch wie er geht und steht sei<br />
nicht der eigentliche Mensch, sondern er müsse das richtige<br />
gesellschaftliche Bewusstsein haben und der richtigen<br />
Klasse angehören. Die Nazis meinten, der richtigen Rasse.<br />
Die Nationalisten, die National- und Neokonservativen,<br />
z. B. in den Vereinigten Staaten, glauben, er müsse der richtigen<br />
Nation angehören, bei uns natürlich dem deutschen<br />
Volk, sonst kann man ihn durch eine Glastür jagen, wo er<br />
verblutet oder in einer Jauchegrube lebendig versenken.<br />
Die Fundamentalisten meinen, er müsse die richtige Religion<br />
haben, sonst wird er ausgepeitscht wie in Saudi-Arabien<br />
oder wie bei uns vor vierhundert Jahren auf dem<br />
Scheiterhaufen verbrannt.<br />
Diese Fundamentalisten sind auch der Überzeugung, der<br />
Mensch müsse das richtige Geschlecht haben, dürfe ja<br />
keine Frau sein: sonst könne man diese Menschen z. B. von<br />
den von Männern und ihren Herrschaftssystemen errichteten<br />
Bildungseinrichtungen ausschließen und rechtlich diskriminieren.<br />
Von einer Milliarde Analphabeten auf dieser<br />
Erde sind 800 Millionen, also 80 Prozent, Frauen, aber<br />
nicht, weil sie dümmer sind als die Männer, sondern weil<br />
sie nicht in die Schule gehen dürfen: Man darf ihnen deswegen<br />
auch die Geschlechtsteile verstümmeln: 100 Millionen<br />
auf dieser Erde sind davon betroffen, jedes Jahr kommen<br />
4 Millionen dazu. In Deutschland sind es 40 000 und<br />
es gibt inzwischen genügend deutsche Arzte, die sich gegen<br />
Euro an dieser Barbarei beteiligen.<br />
Beschneidung von Frauen kann weder unter dem Namen<br />
Allahs oder anderen Normen gebilligt werden. Sie ist<br />
schwere Körperverletzung, ein Verstoß gegen Artikel 2 des<br />
Grundgesetzes und muss von Amts wegen verfolgt werden.<br />
Bis vor kurzem haben Vertreter meiner Partei im Vermittlungsausschuss<br />
die absurde Auffassung vertreten, geschlechtsspezifische<br />
Verfolgung aus bestimmten Ländern<br />
könne niemals politische Verfolgung sein. Aber wenn eine<br />
aufgeklärte Mutter aus Kenia ihr neugeborenes Kind vor<br />
der Barbarei der Beschneidung bewahren will und sie dann<br />
in Deutschland aus diesem Grunde kein Asyl bekommt, ist<br />
dies eben eine völlige Verkennung der rechtlichen Situation,<br />
denn die Beschneidung wird in Kenia von den Behörden de<br />
facto geduldet. Die Verantwortlichen bekommen keine<br />
Bestrafung. Wenn die Diskriminierung von Frauen in der<br />
Rechtsordnung verankert ist, wie das in vielen islamischen<br />
Ländern der Fall ist, und diese Diskriminierung zu schweren<br />
Menschenrechtsverletzungen führt, dann ist dies politische<br />
Verfolgung.<br />
Neuerdings gehört zu den Kriterien, die die Menschenwürde<br />
verletzen, auch das richtige Alter; eine neue Kategorie.<br />
In England kriegen Leute, die älter sind als 80 Jahre,<br />
keine Bypassoperation und kein künstliches Hüftgelenk, sie<br />
werden vom Dialyseapparat abgeschaltet, es sei denn, sie<br />
haben genügend privaten Bimbes, wie man in der Pfalz sagt,<br />
um das aus der eigenen Tasche bezahlen zu können.<br />
Wir sind heute in Deutschland genauso weit. Die Lebensrisiken<br />
sollen weitgehend privatisiert werden. Mein<br />
Parteifreund Philipp Missfelder, Bundesvorsitzender der<br />
Jungen Union, hat gemeint, Leute, die älter sind als<br />
85 Jahre, sollten auch kein künstliches Hüftgelenk mehr bekommen,<br />
sie sollten gefälligst Krücken verwenden. Nun<br />
wollen wir über einen jungen Mann mit 23 Jahren keinen<br />
Die Lebensrisiken<br />
sollen weitgehend<br />
privatisiert werden<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
Stab brechen. In dem Alter kann man auch mal einen<br />
Blödsinn erzählen. Ich bin froh, dass nicht alle wissen, was<br />
ich mit 23 Jahren gesagt habe. Aber man darf ihm nicht<br />
noch auf die Schulter klopfen und sagen, du hast ein richtiges<br />
Problem aufgeworfen, den Finger in eine klaffende<br />
Wunde gelegt. Sondern höchstens sagen, ja was soll denn<br />
der anders reden, wenn schon leibhaftige Professoren erklären,<br />
Leute, die älter sind als 75 Jahre, sollten keine lebenserhaltenden<br />
Medikamente mehr bekommen. Alles unter<br />
Kostengesichtspunkten. Einer dieser Professoren war sogar<br />
offizieller Berater der Deutschen Bischofskonferenz, er<br />
wurde am anderen Tag suspendiert. À la Bonheur, die Kirche<br />
hat mal rasch reagiert, ausnahmsweise.<br />
Aber wir können sehen, wohin wir mit der Kategorisierung<br />
der Menschen kommen. Wenn die Leute das Pech hatten<br />
und das Pech haben, dass sie zur falschen Klasse,<br />
Rasse, Nation, Religion, zum falschen Geschlecht, zum falschen<br />
Alter gehören, dann werden oder wurden sie liquidiert,<br />
vergast, gesteinigt, zu Tode gefoltert, in die Luft gesprengt<br />
oder sonst wie umgebracht. Die falschen<br />
Menschenbilder waren und sind die Ursache für die<br />
schwersten Verbrechen, die die Menschen begangen haben.<br />
Aber auch für die schwerwiegendsten politischen Fehlentscheidungen,<br />
die Menschen getroffen haben.<br />
Und deswegen ist die Frage nach dem richtigen Menschenbild<br />
entscheidend. Kann das richtige Menschenbild<br />
nach den Erfahrungen, die wir mit den anderen Menschenbildern,<br />
diesen kategorisierenden Menschenbildern, gemacht<br />
haben, ein Abklatsch dieser falschen Menschenbilder<br />
sein? Ich glaube wohl nicht. Der Mensch wie er geht und<br />
steht ist der eigentliche Mensch, unabhängig davon, ob er<br />
jung oder alt ist, Mann oder Frau, krank oder gesund und<br />
unabhängig davon, ob jemand <strong>Deutscher</strong> ist oder Ausländer,<br />
Christ oder Jude, Weißer oder Schwarzer. Mit diesem Menschenbild<br />
müssen sich zivilisierte Nationen, und müssen<br />
sich vor allem auch die Deutschen, unterscheiden von den