Jahrbuch 2008 - Sozialhilfe - Kanton Basel-Stadt
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EINE ERWERBSAUSFALLVERSICHERUNG<br />
FÜR DIE SCHWEIZ<br />
Nachdenken über den Sozialstaat und eine radikale Idee zur Diskussion<br />
Dr. rer. pol. Carlo Knöpfel, Leiter des Bereichs Grundlagen und Mitglied der Geschäftsleitung von<br />
Caritas Schweiz, Mitglied der Geschäftsleitung der Schweizerischen Konferenz für <strong>Sozialhilfe</strong> SKOS,<br />
Berater der sozialpolitischen Kommission von Caritas Europa, Dozent an den Fachhochschulen Nordwestschweiz,<br />
Zürich und Luzern<br />
1 NZZ vom 6. August 2007, S.11<br />
2 Vgl. Knöpfel, <strong>2008</strong>, S. 7–79<br />
3 Rossier, 2005<br />
4 Knöpfel, <strong>2008</strong>, S. xx<br />
Werden Menschen in der Schweiz nach ihrer Meinung zur wirtschaftlichen Globalisierung und sozialen<br />
Sicherheit gefragt, geben sie überraschende Antworten. Die Mehrheit glaubt, dem Tempo des<br />
wirtschaftlichen Wandels gut folgen zu können. Aber immerhin ein gutes Viertel hat Angst vor den<br />
Folgen der Globalisierung. Allerdings erwarten die Leute als Ausgleich für ihre Anpassungsbereitschaft<br />
eine gute soziale Absicherung, wie die gleiche Umfrage auch zeigt. Die Hälfte der Befragten<br />
will die Sozialwerke so belassen wie sie sind. Fast zwei Fünftel möchten sie sogar noch ausbauen. Nur<br />
jede zwölfte Person gab in der Umfrage an, die Sozialversicherungen beschneiden zu wollen. 1 Mit<br />
dieser Grundhaltung folgt der grösste Teil der schweizerischen Bevölkerung dem aktuellen wettbewerbspolitischen<br />
Schlagwort ‹flexicurity›. Die grössere Flexibilität der Arbeitskräfte, die der internationale<br />
Standortwettbewerb den Erwerbstätigen abfordert, soll mit einem hohen Mass an sozialer<br />
Sicherheit kompensiert werden. 2<br />
Diese Haltung der schweizerischen Bevölkerung steht im krassen Gegensatz zur tatsächlichen<br />
Entwicklung in der Sozialpolitik. Diese ist von harten Auseinandersetzungen um Begrenzungen<br />
der sozialen Sicherheit geprägt. Die steigende Soziallastquote liefert zu dieser Feststellung keinen<br />
Gegenbeweis. Die wachsenden Ausgaben für die soziale Sicherheit suggerieren nämlich ein falsches<br />
Bild. Sie stehen nicht für einen Ausbau des Sozialstaates, sondern spiegeln nur die grösser werdende<br />
Zahl von Menschen, die auf materielle Unterstützung angewiesen sind. Angesichts der damit einhergehenden<br />
Finanzierungsprobleme ist vielmehr ein subtiler Abbau des Schutzes durch die verschiedenen<br />
Sozialversicherungen zu beobachten. Kaum eine Sozialversicherung steht nicht in einem<br />
Revisionsprozess oder kurz davor. Der Sozialstaat in der Schweiz wird denn auch oft als nie fertig<br />
werdende Baustelle beschrieben. 3 Denn diese Revisionen erzeugen selber wieder Anpassungen an<br />
anderen Orten im Sozialstaat. Der evolutionäre Prozess nicht abbrechender Revisionen scheint zu<br />
einer sozialpolitischen Sisyphusarbeit zu werden, die nur noch Probleme zu lösen vermag, indem sie<br />
andere verursacht. Die Komplexität und Intransparenz nimmt dabei ein Ausmass an, das die Betroffenen<br />
zu hilflosen Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern macht, die selbst nicht mehr<br />
überprüfen können, ob sie das bekommen, was ihnen auch zusteht.<br />
Einer Neuordnung des über viele Jahre entstandenen Systems sozialer Sicherheit wird denn auch<br />
immer wieder mal das Wort geredet. In diesem Kontext wird hier ein neuer radikaler Vorschlag<br />
formuliert: die Einführung einer einzigen Erwerbsausfallversicherung.<br />
Im ersten Teil zeichnen wir die aktuellen Reformbemühungen im schweizerischen Sozialstaat nach.<br />
Im zweiten Kapitel diskutieren wir Vorschläge zur Neuorganisation des Systems sozialer Sicherheit,<br />
die allesamt Ende der Neunzigerjahre publiziert wurden, aber längst in Vergessenheit geraten sind.<br />
Im dritten Abschnitt wird die neue Idee einer allgemeinen Erwerbsausfallversicherung präsentiert<br />
und kritisch kommentiert.<br />
1. SOZIALSTAAT ALS DAUERHAFTE BAUSTELLE<br />
Es gibt kaum eine Sozialversicherung, die nicht revidiert werden soll. 4 Der Handlungsbedarf steht<br />
dabei in einem scharfen Kontrast zur Qualität des sogenannten Kompromisses. Jede Revision zeigt<br />
aufs Neue, dass kaum mehr Lösungen zu finden sind, die im Parlament und an der Urne Mehrheiten<br />
finden. Das Unbehagen im Sozialstaat greift um sich. Dies zeigt ein kurzer kursorischer Blick auf die<br />
laufenden Geschäfte.