18.07.2014 Aufrufe

Jahrbuch 2008 - Sozialhilfe - Kanton Basel-Stadt

Jahrbuch 2008 - Sozialhilfe - Kanton Basel-Stadt

Jahrbuch 2008 - Sozialhilfe - Kanton Basel-Stadt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

7<br />

4 Dominantes Stichwort in den vielen Revisionen ist die Stärkung der Eigenverantwortung. Die<br />

Versicherten müssen mehr Risiken selber tragen. In der Krankenversicherung wird dies zum<br />

Beispiel mit einer Erhöhung der Franchise und des Selbstbehaltes erreicht, in der Arbeitslosenversicherung<br />

über die Verlängerung der Karenzfristen, bis Taggeld bezogen werden kann.<br />

5 Der Zugang zu den Versicherungsleistungen wird Schritt für Schritt erschwert. So ist zum Beispiel<br />

in der Arbeitslosenversicherung mehrmals die Wartefrist für junge Erwachsene verlängert<br />

worden, um damit einen frühzeitigen Bezug von Arbeitslosentaggeldern zu vermeiden. Aber<br />

auch in der Invalidenversicherung hat man mit den regionalen ärztlichen Diensten eine Kontrollinstanz<br />

mit dem klaren Auftrag geschaffen, in zweifelhaften Fällen nicht mehr zu Gunsten<br />

der Klientinnen und Klienten zu entscheiden, sondern zum Vorteil der Sozialversicherung.<br />

6 Selbst die Höhe der Leistungen ist längst kein Tabu mehr, vor allem in der Altersvorsorge. In der<br />

ersten Säule wird die Anpassung der Renten an die wirtschaftliche Entwicklung diskutiert. Vorgeschlagen<br />

wird, die Renten nur noch der Inflation anzupassen. Längst im Gange sind Leistungskürzungen<br />

bei der zweiten Säule. Die Reduktion des Umwandlungssatzes auf Grund der<br />

gestiegenen Lebenserwartung bedeutet nichts anderes, als dass die längere Bezugsdauer einer<br />

Rente mit der entsprechenden Senkung des Rentenbetrags kompensiert wird. Die bekannte Tatsache,<br />

dass Menschen aus unteren Einkommensschichten nicht die gleiche Lebenserwartung<br />

haben wie Besserverdienende, wird dabei geflissentlich übersehen.<br />

7 Am fragwürdigsten aber ist die schleichende Verschiebung der Zielsetzung für die Sozialversicherungen.<br />

Nicht mehr die Erwerbsausfallentschädigung und Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit,<br />

Krankheit, Unfall oder Invalidität stehen im Zentrum, sondern die möglichst rasche<br />

Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Eine Versicherung hat aber den primären Zweck, im<br />

Schadensfall Schutz zu gewähren. Dieser Grundgedanke droht aus dem Blickfeld zu rutschen.<br />

Die Sozialversicherungen werden systematisch zu Anreizsystemen umgebaut, das Anrecht auf<br />

eine Versicherungsleistung damit relativiert. Wer sich rasch um eine berufliche Integration<br />

bemüht, wird belohnt, den anderen drohen Sanktionen. Die verstärkten Bemühungen zur sozialen<br />

und beruflichen Integration sollen hier nicht in Bausch und Bogen verurteilt werden.<br />

Problematisch wird das Ganze, wenn damit Augenwischerei bei den Betroffenen über ihre tatsächlichen<br />

Chancen auf dem Arbeitsmarkt betrieben wird.<br />

5 Economiesuisse, 2005, S. 5<br />

Der Versicherungsschutz bei den Sozialwerken bröckelt. Auf einen weiteren Ausbau wird verzichtet,<br />

obwohl neue soziale Risiken in grossem Ausmass auftreten. Zu denken ist an die Erwerbsarmut<br />

(working poor), die Langzeitarbeitslosigkeit und die Folgen von Trennung und Scheidung für alleinerziehende<br />

Eltern und ihre Kinder. Beide Entwicklungen führen unweigerlich zu einer Mehrbelastung<br />

der <strong>Sozialhilfe</strong>.<br />

Dieser Reformismus hat unterschiedliche Gründe. Anlass zur Überarbeitung der gesetzlichen Grundlagen<br />

sind aber in aller Regel die anfallenden Defizite bei den einzelnen Sozialversicherungen. In<br />

diesem Zusammenhang ist dann auch von Sanierungsfällen die Rede. Und obwohl in den Revisionsarbeiten<br />

der Hinweis auf die Wirkungszusammenhänge im System der sozialen Sicherheit in den parlamentarischen<br />

Beratungen nie fehlt, konzentriert sich die gesetzgeberische Arbeit am Ende doch<br />

vor allem auf die Bewältigung der Probleme, die sich bei der gerade zu behandelnden Sozialversicherung<br />

stellen. Nebenwirkungen auf andere Bereiche des Sozialstaats werden in Kauf genommen<br />

und der entsprechende Koordinationsbedarf steigt weiter an. Dabei geht es auf der Baustelle ‹Sozialstaat<br />

Schweiz› kaum mehr um Neu- oder Erweiterungsbauten, sondern vielmehr um Renovationen<br />

und Rückbau. Immer öfter wird eine Begrenzung der Leistungen gefordert und die Eigenverantwortung<br />

der Versicherten propagiert. Economiesuisse 5 bringt es in ihrem wirtschaftspolitischen<br />

<strong>Jahrbuch</strong> 2005 auf den Punkt: «Eigenverantwortung statt Vollkasko-Mentalität. Integration statt<br />

Sozialtransfers und eine grössere Gewichtung der Erwerbstätigkeit sind die Gebote der Stunde.»<br />

Dieser Um- und Abbau des Sozialstaats vermag nicht zu überzeugen. Zu sehr ist er von finanzpolitischen<br />

Argumenten dominiert, zu oft kommt es zu Reformen auf Kosten anderer Sozialversicherungen<br />

oder der <strong>Sozialhilfe</strong>. Diesem Trend ist etwas entgegenzuhalten, das über die sozialpolitische<br />

Tagesaktualität hinausreicht. Dabei muss man nicht gleich einer fundamentalen Neugestaltung des<br />

Sozialstaates das Wort reden. Hier wird vorgeschlagen, einige Wände aus dem Sozialstaatsgebäude<br />

zu entfernen, um so mehr Übersicht und gestaltbaren Raum zu gewinnen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!