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WERKBUCH_06_web

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werkbuch<br />

.<strong>06</strong> 6<br />

Methoden kultureller bildung aus dem<br />

bereich der Tanzpädagogik<br />

Saskia Zimmerer<br />

Hip-Hop und Rap im Unterricht<br />

Tanz weitet den Blick auf die Welt. In einem interkulturellen<br />

Projekt beschäftigt sich der Tänzer Tiago<br />

Manquinho mit der Lyrikreihe: „Mir auf der Spur“, die<br />

im schulinternen Curriculum vorgesehen ist. Die<br />

Kuhlo-Realschule Bielefeld hat sich im Programm<br />

„Kulturagenten für kreative Schulen“ in diesem Jahr<br />

auf Kooperationen mit Tanzinstitutionen fokussiert,<br />

um die künstlerische bzw. tänzerische Auseinandersetzung<br />

mit Lehrplaninhalten anzustreben. Der<br />

Tänzer übernimmt in diesem Kontext nicht die Rolle<br />

des Pädagogen. Er bereitet das neue Thema vor, weckt<br />

Interesse und lädt zum Erforschen ein. Das künstlerische<br />

Erleben steht im Vordergrund. Im Deutschunterricht<br />

bewegen sich die Schülerinnen und Schüler<br />

der 10. Klasse durch den Klassenraum. Die Tische sind<br />

an die Seite geräumt. Sie tragen bequeme Kleidung. Es<br />

ist sehr heiß und alle schwitzen schon nach wenigen<br />

Minuten. Trotzdem ist die Laune nach dem intensiven<br />

Aufwärmtraining locker und fröhlich. Auch die<br />

Deutschlehrerin tanzt mit und überrascht die Schülerinnen<br />

und Schüler durch ihr Können. Viele wussten<br />

gar nicht, dass ihre Lehrerin schon viel Tanzerfahrung<br />

hat. So verändert und weitet sich schon hier das erste<br />

Mal der Blick der Schülerinnen und Schüler. „Wir<br />

haben fünf verschiedene Nationalitäten in dieser<br />

Klasse“, erzählt Umut. „Viele sprechen zu Hause eine<br />

andere Sprache. Mit Tiago sprechen wir eine universelle<br />

Sprache.“ Über Tanzimprovisationen erfahren<br />

die Schülerinnen und Schüler instinktiv eine neue<br />

Form der Kommunikation. Sie lernen die Körpersprache<br />

lesen über das Beobachten und selber Erleben.<br />

Durch Isolationsübungen lernen die Schülerinnen<br />

und Schüler ihren Körper besser kennen. Auch die<br />

Bezeichnungen für bestimmte Tanzschritte wie plié<br />

oder relevé werden erlernt. Der Wechsel von den<br />

vorgegebenen sehr disziplinierten Übungen zum<br />

freien Improvisieren fällt nicht allen sofort leicht.<br />

Doch die wertschätzende Art des Umgangs miteinander<br />

und die nonverbale Kommunikation nimmt<br />

allen nach und nach die Hemmungen. Grundlage ist<br />

Rilkes Gedicht „Der Panther“. Doch das hat Tiago,<br />

Tänzer am Bielefelder Stadttheater, den Schülerinnen<br />

und Schülern noch gar nicht erzählt. Tiago stellt<br />

Aufgaben, die kein vorgeschriebenes Ziel haben. Die<br />

Herausforderung ist es, eigene, ganz individuelle<br />

Antworten zu finden. Besonders die Schülerinnen<br />

und Schüler, die sonst nicht so gute Noten haben,<br />

nutzen hier die Chance, sich von einer ganz anderen<br />

Seite zu zeigen. Dieses hat auch positive Auswirkungen<br />

auf den sonstigen Schulunterricht. Die<br />

Lehrerin der Klasse berichtet, einige Schülerinnen<br />

und Schüler in einem ganz anderen Licht zu sehen. Sie<br />

ist von diesem neuen Zugang, die Lyrikreihe tänzerisch<br />

einzuleiten, begeistert.<br />

Die Schülerinnen und Schüler entwickeln ungewöhnliche<br />

und kreative Ideen. Die Bewunderung der<br />

Mitschüler und das Lob des Tänzers fördern die<br />

Sicherheit und das Selbstbewusstsein der Schülerinnen<br />

und Schüler. Die kleinen Choreographien,<br />

verdeutlichen die Gedichtstrukturen. Sie erfahren<br />

erst einmal intuitiv und sinnlich was später inhaltlich<br />

reflektiert wird. Besonders wichtig ist es auch, dass<br />

die Lehrkraft bei diesem Tanz-Deutschunterricht<br />

anwesend ist. So kann sie mit der Klasse an der richtigen<br />

Stelle weiterarbeiten und Bezug nehmen auf<br />

Erlebtes. Der Transfer von Informationen zum Wissen<br />

gelingt so nachhaltiger. Lehrstoff ist nun nichts mehr,<br />

was sich irgendwer irgendwann einmal ausgedacht<br />

hat, sondern er wird lebendig und hat etwas mit der<br />

eigenen Person zu tun. Das Gedicht gewinnt insgesamt<br />

an Bedeutung, da man selbst aktiver Gestalter<br />

ist. Die Musik hat einen großen Einfluss auf die Art<br />

und Weise des Tanzes. Wie man sich bewegt, was<br />

gewagt wird, ob alleine oder zu zweit getanzt wird. So<br />

ist die Stimmung und die Atmosphäre je nach Musik<br />

unterschiedlich. Ein natürliches Empfinden nach<br />

passender schöner Musik, passend zum Gedicht,<br />

bildet sich so nebenbei. Ein gutes Rhythmusgefühl<br />

haben in dieser Klasse alle. Die ausgewählte Musik ist<br />

für die Schülerinnen und Schüler ungewohnt. Sie<br />

tanzen sonst zu anderer Musik. Mit der Zeit folgen<br />

einige Akteure mit dem Körper eher der Melodie,<br />

andere eher dem Rhythmus der Musik und finden<br />

auch über dieses Medium ihre eigene Ausdrucksform.<br />

Die Schülerinnen und Schüler lernen in der Gruppe<br />

sich und die anderen neu und anders kennen. Verborgene<br />

Talente werden sichtbar. „Der Körper ist der<br />

Spiegel der Seele“ sagt Tiago. „Ihr interpretiert<br />

aufgrund eurer eigenen Lebenserfahrungen. Was ihr<br />

seht, ist nicht unbedingt das, was der Darsteller<br />

gerade zeigen möchte. Auf der anderen Seite sieht der<br />

Betrachter eine Menge Dinge, die dem Darsteller<br />

nicht unbedingt bewusst sind“. Zur Übung und<br />

Verdeutlichung teilt sich die Klasse in zwei Gruppen<br />

auf. Die erste Gruppe stellt sich in einer Reihe auf, die<br />

andere nimmt als Zuschauer Platz. Die Schülerinnen<br />

und Schüler bekommen die Aufgabe, gemeinsam und<br />

gleichzeitig in einer Reihe auf die Zuschauer zuzugehen.<br />

Der Impuls loszugehen soll gemeinsam<br />

entstehen. Nach einiger Zeit gehen sie langsam durch<br />

den Raum. Es klappt gut. Die Reihe ist fast ganz<br />

gerade. Tiago fragt die Zuschauer, von wem der<br />

Impuls zum Losgehen ausgegangen ist. Alle nennen<br />

die gleiche Schülerin. Sie selbst ist überrascht. Sie war<br />

sich nicht darüber bewusst, dass ihre Ungeduld und<br />

ihr „Losgehenwollen“ so deutlich zu sehen war.<br />

Impulse und Zufall sind Elemente genau die trainiert<br />

werden. Wie reagiere ich spontan? Wie können wir<br />

kommunizieren, ohne miteinander zu sprechen? Wie<br />

lasse ich meinen Körper sprechen, wie verleihe ich<br />

meinen Bewegungen Ausdruck? Das Wechselspiel<br />

zwischen Spannung und Entspannung, Einatmen und<br />

Ausatmen macht diese Stunden interessant. Im<br />

künstlerischen Handeln ist der Prozess mitunter<br />

entscheidender als das Produkt oder Ergebnis. Tiago<br />

bewertet nicht nur den Erfolg, sondern er lobt auch<br />

die Mühe, den persönlichen Fortschritt. Dabei guckt<br />

er auf den gesamten Entwicklungsprozess. Nie kritisiert<br />

er abwertend. Die Kritik ist positiv (Das war ganz<br />

toll) oder eher neutral: ( „Toll, dass ihr mitgemacht<br />

habt“.) So wird die Kreativität nicht gebremst oder<br />

eingegrenzt. Sie lernen auch voneinander, indem sie<br />

sich gegenseitig loben, wertschätzen und auf Verbesserungsmöglichkeiten<br />

hinweisen.<br />

Zeit ist ein wesentlicher Faktor in kreativen Prozessen,<br />

nicht unter Druck arbeiten zu müssen, sondern<br />

Entwicklungsfreiräume bewusst gewähren. Dies<br />

führt dazu, dass sich die Schülerinnen und Schüler<br />

ernst genommen fühlen und Engagement zeigen.<br />

Trotzdem: Alles ist ein Angebot. Es kann sein, dass ein<br />

Schüler oder eine Schülerin eine Aufgabe nicht<br />

ausführen möchte. Dann muss er oder sie auch nicht.<br />

Die Freiwilligkeit schafft den Raum für Persönlichkeit.<br />

Konsequent und kritisch ist Tiago Manquinho<br />

trotzdem. Die Ansprache erfolgt auf gleicher Augenhöhe.<br />

Er will nichts beibringen. Er schafft den Raum,<br />

die Zeit, das Angebot, die Möglichkeit mit sich selbst<br />

und den anderen in Kontakt zu kommen. Gemeinsam<br />

stellt die Klasse Alltagsbezüge her und interpretiert<br />

so fast nebenbei die Aussage des Gedichts.<br />

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