WERKBUCH_06_web
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werkbuch<br />
.<strong>06</strong> 1<br />
lernen mit Kunst und Kultur<br />
Verkümmerung von Kreativität beizutragen. Wenn<br />
man kleine Kinder beobachtet, sind wir oft verblüfft<br />
über deren Kreativität im Sinne von schöpferischer<br />
Tätigkeit, fast unendlich ist ihre Kreativität und auch<br />
ihre Energie. Der Gestaltungswille ist dem Menschen<br />
innewohnend, bei Kindern wird es uns überdeutlich.<br />
Sie entdecken permanent etwas subjektiv Neues, lassen<br />
sich nicht davon abhalten, vielen Dingen oder<br />
Situationen, denen sie begegnen, dem eigentlichen<br />
Zweck zu entreißen. Da wird der Koffer des Vaters<br />
kurzerhand zum Schiff umfunktioniert oder als Versteck<br />
genutzt. Kinder leben in ganz jungen Jahren in<br />
ihren eigenen Welten, die vom Zweck der Erwachsenen<br />
befreit sind oder befreit werden müssen. Mit riesengroßer<br />
Begeisterung wird ein Papier in unendlich<br />
viele Stücke zerschnitten und im Zimmer verteilt.<br />
Nur wenn wir als Erwachsene in der Lage sind, diese<br />
neue Definition von Zweck mitzugestalten, können<br />
wir in einen wirklichen Gestaltungsdialog eintreten<br />
und gemeinsam mit unseren Kindern neue Welten<br />
entdecken. Es wird zu einer großen Herausforderung<br />
für Erwachsene, Kindern bei der Entdeckung der Welt<br />
den Freiraum anzubieten, den jedes einzelne Kind für<br />
sich beansprucht und braucht. Jedoch wird oft genug<br />
alles, was ein Kind in dieser Hinsicht ausmacht, bevor<br />
es in die erste Bildungseinrichtung kommt, systematisch<br />
in unserem Bildungssystem zerstückelt.<br />
Ursprünglich wollten wir uns bestimmte Strukturen<br />
nutzbar machen, damit sie uns Menschen etwas<br />
erleichtern, aber inzwischen stecken wir in einem<br />
Verhältnis fest, indem wir Diener dieser Strukturen<br />
geworden sind. Die Mechanismen dieser Strukturen<br />
geben dem Menschen vor, wie er zu funktionieren<br />
hat. Da kommt ein einzelner Lehrer kaum heraus.<br />
Andreas Schleicher (Pisa) hat bei einem Bildungsdiskurs<br />
der Stiftung Mercator verdeutlicht, dass<br />
die Schule der Zukunft nicht mehr durch Standardisierung<br />
und Konformität geprägt ist, sondern, wie<br />
er sagte, „durch Erfindergeist und individualisiertes<br />
Lernen, nicht mehr Lehrplan zentriert, sondern<br />
Lerner zentriert.“ Weiter führt er aus, „in der Schule<br />
der Zukunft gehe es nicht mehr allein darum, den<br />
Schüler zur Schule zu bringen, sondern das Lernen zum<br />
Lernenden zu bringen, Lernen als Aktivität aufzugreifen,<br />
nicht als Ort.“Wir haben inzwischen auf den<br />
maßgeblichen Ebenen erkannt, dass wir mit dem<br />
Lernen, wie es heute noch meistens und vielerorts<br />
praktiziert wird, in Zukunft kaum bestehen können.<br />
Was braucht es aber konkret, um einen Wandel<br />
zu vollziehen, damit die Kinder von heute als<br />
Erwachsene von morgen in der Lage sind, die Welt<br />
entsprechend zukünftiger Bedürfnisse zu verändern?<br />
Und was spielt die Gestaltungsfähigkeit dabei für eine<br />
Rolle? Und auch hierzu hat Andreas Schleicher eine<br />
sehr gute Anregung: „Angesichts der wachsenden<br />
Komplexität moderner Bildungssysteme kann auch<br />
der beste Bildungsminister nicht die Probleme von<br />
zigtausenden Schülern und Lehrern lösen. Wohl aber<br />
können zigtausende Schüler und Lehrer die Probleme<br />
des einen Bildungssystems lösen, wenn sie vernetzt<br />
an der Lösung der Probleme arbeiten.“ In der Tat<br />
brauchen wir kluge Vernetzungsstrategien zum einen<br />
und zum anderen brauchen wir die Schüler und<br />
Schülerinnen, jeden einzelnen von ihnen. Sie werden<br />
in den besten Schulen schon jetzt als Bildungspartner<br />
begriffen und wahrgenommen. Ihre Potenziale gilt es<br />
systematisch aufzubauen. Ihr Gestaltungswille muss<br />
sich in Gestaltungskompetenz verwandeln. An einer<br />
der wohl innovativsten Schulen Deutschlands, der<br />
Evangelischen Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum,<br />
sind Schülerinnen und Schüler als Bildungspartner<br />
aktiv in Schulentwicklungsprozesse eingebunden.<br />
Diese Schule hat ein anderes Fundament für das<br />
Lernen gebaut und darauf ein Haus errichtet, dass<br />
es jedem Kind, jedem Jugendlichen und jedem<br />
Erwachsenen ermöglicht, tatsächlich eigene Fähigkeiten<br />
entdecken, ausprobieren und entfalten<br />
zu können. In dieser Schule findet jeder das, was<br />
man als Mensch immer und überall braucht: Anerkennung,<br />
Zugehörigkeit und Autonomie. Und um<br />
diesen menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden,<br />
geht es nicht den Menschen an dieser Schule,<br />
sondern den schulischen Strukturen im Allgemeinen<br />
„an den Kragen“. Indem sie Kinder tatsächlich als<br />
Bildungspartner wahrnehmen und sie an Lernsituation<br />
herangeführt werden, die im Wesentlichen real<br />
sind, eignen sich die Kinder reales Wissen an und<br />
keine reine Information oder simuliertes Wissen. Über<br />
Fächer wie Verantwortung und Herausforderungen<br />
lernen sie permanent in der Lebenswirklichkeit.<br />
Das fördert gleichzeitig ihren Gestaltungswillen und<br />
entwickelt ihre Gestaltungsfähigkeit. Sie übernehmen<br />
jeden Tag echte Verantwortung und suchen sich<br />
eigene Aufgaben. Die an dieser Schule tätigen Lehrkräfte<br />
tun alles Erdenkliche, damit ihre Schülerinnen und<br />
Schüler sich entdecken, ausprobieren und entfalten<br />
können. Jeder Mensch, der diese Möglichkeiten und<br />
Gelegenheiten erhält, wird aus dem Willen zur Gestaltung<br />
seine eigene Gestaltungsfähigkeit entwickeln<br />
können. Gestaltung ist ein Wesenszug von Selbstentdeckung<br />
eigener Fähigkeiten und somit auch Unfähigkeiten.<br />
Dieser Prozess wird durch Entdeckung<br />
hervorgerufen. Im Rahmen von Schule kann es somit<br />
nicht darum gehen, Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen,<br />
wozu sie nicht in der Lage sind, sondern mit<br />
ihnen gemeinsam herauszufinden und zu entdecken,<br />
was sie können und wer sie sind und sein wollen.<br />
Erfahrungen sind erlebte Situation. Erfahrung machen<br />
bedeutet individuelles oder auch kollektives Erleben.<br />
Im Unterschied zur Information ist eine Erfahrung<br />
immer ein erlebtes und eigenes Verhältnis zu sich und<br />
im Kontext gesellschaftlicher Zusammenhänge. Im<br />
schulischen Kontext werden in der Regel Informationen<br />
und Wissen vermittelt, ohne dass sowohl Kinder<br />
als auch Lehrkräfte daraus ein persönliches Erleben<br />
ableiten können. Der Anteil des Entdeckens fehlt<br />
oftmals nahezu vollständig. Ergebnisse sind längst<br />
bekannt, Ziele schon formuliert. Es gibt kaum etwas<br />
zu entdecken, was andere vor ihnen nicht schon<br />
längst entdeckt haben. Es ist im Grunde totes Wissen,<br />
Reproduktion alt bewährter Wege. Gestalten ist hier<br />
nicht möglich, weil Reproduktion keinerlei Entdeckung<br />
zulässt. Erst wenn es in der Schule von morgen<br />
gelingt, sich dem Prozess des Entdeckens zu öffnen,<br />
kann es gelingen, die individuellen Fähigkeiten eines<br />
jeden zu fördern ohne die originären Aufgaben von<br />
Schule zu vernachlässigen. Im Gegenteil, Schule hätte<br />
sogar die einmalige Gelegenheit sich aus dem Diskurs<br />
der Reproduktion selbst zu befreien und sich zu einem<br />
Zentrum von Innovation zu verwandeln. An einem<br />
Ort, an dem sich Entdeckung und Tradition verbindet,<br />
entsteht evolutionäre Bedeutsamkeit. Schule<br />
wird Entwicklungsgehilfe und Gestaltungsinstitution<br />
von neuen Erkenntnissen, wird zum Vermittler zwischen<br />
alt bewährten und neuen Wegen. Sowohl Kinder<br />
als auch Lehrkräfte werden zu aktiven Gestaltern<br />
ihre eigenen Prozesse, ohne dabei ihre gemeinsamen<br />
Ziele aus den Augen zu verlieren. Gestaltung verbindet<br />
nicht nur Tradition und Innovation, sondern auch<br />
Information, Wissen und Erfahrung.<br />
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