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Operation „Herzintelligenz“ - Haufe.de

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Marcel Reich-Ranicki am 27. Januar 2012<br />

als Zeitzeuge sitzend am Rednerpult <strong>de</strong>s<br />

Deutschen Bun<strong>de</strong>stags (links) und als lei<strong>de</strong>nschaftlicher<br />

Teilnehmer einer Diskussionsrun<strong>de</strong><br />

im Jahr 2006.<br />

Foto: R. Orlowski / Getty Images<br />

<strong>de</strong>nrates in Warschau) Czerniaków klar, dass er buchstäblich<br />

nichts mehr zu sagen hatte. In <strong>de</strong>n frühen Nachmittagsstun<strong>de</strong>n<br />

sah man, dass die Miliz, so eifrig sie sich darum bemühte,<br />

nicht imstan<strong>de</strong> war, die von <strong>de</strong>r SS für diesen Tag gefor<strong>de</strong>rte<br />

Zahl von Ju<strong>de</strong>n zum Umschlagplatz zu bringen. Daher drangen<br />

ins Getto schwer bewaffnete Kampfgruppen in SS-Uniformen<br />

– keine Deutschen, vielmehr Letten, Litauer und Ukrainer. Sie<br />

eröffneten sogleich das Feuer aus Maschinengewehren und<br />

trieben ausnahmslos alle Bewohner <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Umschlagplatzes<br />

gelegenen Mietskasernen zusammen.“ Auf das<br />

Ziel <strong>de</strong>r Deportation kommt Reich-Ranicki erst in seinem „so<br />

schlichten wie bedrücken<strong>de</strong>n“ (Jury) Schlusssatz zu sprechen:<br />

„Die Deportation hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck:<br />

<strong>de</strong>n Tod.“<br />

„Eine Re<strong>de</strong> kann Gutes tun“<br />

Aus <strong>de</strong>r narrativen Verdichtung <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> entspringe ihre höchst<br />

überzeugen<strong>de</strong> Wirkung, analysiert die Jury vom Seminar für<br />

Allgemeine Rhetorik an <strong>de</strong>r Universität Tübingen. „Die <strong>de</strong>tailgetreue,<br />

von subjektiven Wahrnehmungen und atmosphärischen<br />

Eindrücken durchzogene Erinnerung führt <strong>de</strong>n Zuhörern<br />

die Grausamkeit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>nvernichtung direkt vor Augen.“<br />

Reich-Ranicki liefere eine kunstvolle und ergreifen<strong>de</strong>, aber an<br />

keiner Stelle pathetische Erzählung, die sich mit großer Sensibilität<br />

gera<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeiten <strong>de</strong>r Ereignisse<br />

annehme: „Zum Umsiedlungsbeschluss ertönen Strauß-Walzer<br />

an einem warmen und sonnigen Sommertag; die Eheschließung<br />

mit Reich-Ranickis Frau Teofila fin<strong>de</strong>t in äußerster Eile<br />

und unter unmittelbarer To<strong>de</strong>sangst statt.“ Auf diese Weise ermögliche<br />

Reich-Ranicki seinen Zuhörern ein Nach-Empfin<strong>de</strong>n,<br />

das nur ein Zeitzeuge hervorrufen könne.<br />

Die Re<strong>de</strong>, die teils mit brüchiger, teils aber auch mit gewohnt<br />

kräftiger Stimme und <strong>de</strong>zidierter Gestik vorgetragen wor<strong>de</strong>n<br />

sei, sei ein beeindrucken<strong>de</strong>r, kraftvoller und authentischer Beitrag<br />

zum Ge<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>n Holocaust in Deutschland. Dies<br />

sei gera<strong>de</strong> in einer Zeit von eminenter Be<strong>de</strong>utung, in <strong>de</strong>r es<br />

nur noch wenige Überleben<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Völkermords an <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n<br />

gebe und in <strong>de</strong>r unser Land gleichzeitig unter <strong>de</strong>m Eindruck<br />

rechtsextremen Terrors stehe. Je zynischer eine Gesellschaft<br />

wer<strong>de</strong>, die wichtige politische Re<strong>de</strong>n nur noch als Sonntagsre<strong>de</strong>n<br />

wahrnehme, je abgestumpfter sie auf Bekenntnisse und öffentliche<br />

Versprechungen reagiere, <strong>de</strong>sto wichtiger sei es, daran<br />

zu erinnern, dass eine Re<strong>de</strong> im tiefsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes Gutes<br />

tun könne, schrieb Frank Schirrmacher, einer <strong>de</strong>r Herausgeber<br />

<strong>de</strong>r FAZ, nach<strong>de</strong>m er die Re<strong>de</strong> im Bun<strong>de</strong>stag mitverfolgt<br />

hatte. Rhetoriktrainer und Interessierte, die die Re<strong>de</strong> im Detail<br />

analysieren wollen, können <strong>de</strong>n kompletten Text unter www.<br />

bun<strong>de</strong>stag.<strong>de</strong>/dokumente/textarchiv/2012/37432080_kw04_<br />

ge<strong>de</strong>nkstun<strong>de</strong>/re<strong>de</strong>_ranicki.html auf <strong>de</strong>r Homepage <strong>de</strong>s Deutschen<br />

Bun<strong>de</strong>stags nachlesen.<br />

Martin Pichler<br />

02_2013 wirtschaft+weiterbildung 15

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