Klinoskop 4/2010 - Klinikum Chemnitz
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Es wird einen wunderschönen Frühling geben<br />
Prof. Stephan Tanneberger bei den <strong>Chemnitz</strong>er Köpfen im Restaurant Flemming<br />
Man wartet, aber ein Star lässt auf sich<br />
warten, das ist so üblich, gerade dann, wenn<br />
er vorher noch einen Auftritt hat. So mögen<br />
die Erwartungen der Besucher im Konferenzraum<br />
des Restaurants Flemming zur Reihe<br />
<strong>Chemnitz</strong>er Köpfe Ende Juli gelegen haben.<br />
Nach der Vorstellung seines neuen Buches<br />
„Notlandung“ im TIETZ kam Prof. Dr. med.<br />
Stephan Tanneberger leicht gehetzt zu seinem<br />
zweiten <strong>Chemnitz</strong>er Auftritt am Tage.<br />
Der „Mediziner, Chemiker und Publizist“, so<br />
die Ankündigung von Conférencier Addi Jacobi,<br />
hatte bereits zum dritten Mal den Ruf zu<br />
den <strong>Chemnitz</strong>er Köpfe erhalten, eine renommierte<br />
Reihe, bei der mehrere Granden bereits<br />
glaubhaft versicherten, dass es nichts<br />
Gleichartiges in anderen Städten gäbe.<br />
Im Anschluss nach der Veranstaltung: Stephan Tanneberger<br />
mit seinem Freund, dem Biologen und Kunstsammler<br />
Hartmut Koch aus <strong>Chemnitz</strong>. Foto: kr<br />
Besuch von Sonia Gandhi, Ehefrau des ermordeten indischen<br />
Politikers Rajiv Gandhi.<br />
Das Abitur an der<br />
EOS Karl Marx<br />
Tanneberger, Jahrgang 1935, Kindheit in Niederwiesa,<br />
an der Erweiterten Oberschule Karl<br />
Marx in <strong>Chemnitz</strong> das Abitur abgelegt. Die<br />
berufliche Karriere des ehemaligen Direktors<br />
des Zentralinstitutes für Krebsforschung der<br />
Akademie der Wissenschaften der DDR, an<br />
dem er seit 1972 tätig war, geht steil nach<br />
oben. Die Mitarbeiter können der Einrichtung<br />
relativ früh einen internationalen Namen verschaffen,<br />
was für Einrichtungen dieser Art in<br />
der DDR aus verschiedenen Gründen als eher<br />
schwierig galt. Unter Tanneberger befasste<br />
man sich im Zentralinstitut zeitig mit der<br />
Chemotherapie auf hohem Niveau.<br />
Arzt für die Normalen und<br />
die Celebrities<br />
Tanneberger war und blieb eine Institution.<br />
Als Mediziner ist er in der Welt der Wissenschaft<br />
tätig, für die Celebrities und die<br />
„normalen Patienten“ – letzteres ist ihm das<br />
Wichtigste. Er wird in Indien von Indira Gandhi<br />
empfangen, stand mit ihr im Briefkontakt,<br />
was eine außergewöhnliche Ehre war –<br />
Briefe wechselte sie doch zeitlebens mit ihren<br />
Vertrauten. Er behandelt 1980 wegen einer<br />
Krebserkrankung Laura Allende Gossens, der<br />
Schwester Salvador Allendes, die nach einem<br />
Haftaufenthalt unter Pinochet 1974 ins Exil<br />
gehen musste und seit 1976 in Kuba lebte.<br />
Der Glauben für das Beste,<br />
Klügste, Richtigste<br />
Seine Patientin ist die Schriftstellerin Maxi<br />
Wander, die, schon schwer an Brustkrebs<br />
erkrankt, das Unmögliche erhofft und doch<br />
völlig normal bleibt. Es kommt Künstlerprominenz<br />
bei ihr am Krankenbett zu Besuch, alles<br />
erscheint eine Nummer größer als normal,<br />
aber die Schwestern, die schnell Sonderrechte<br />
wittern, merken bald, dass sie bescheiden<br />
ist und keine Extratouren wünscht – die nehmen<br />
sich gern jene, die unter Minderwertigkeitskomplexen<br />
leiden.<br />
„Wir machen Therapie. Glauben, wir tun das<br />
Beste, Klügste, Richtigste. Müssen das auch<br />
alles so machen. Pflicht! Nichts tun? Wehe,<br />
wenn’s schief geht. Lehrmeinung missachtet!<br />
Aber der Patient hat eben auch seinen Willen.<br />
Will das nicht, was wir wollen. Und wir wiederum<br />
meinen, der kann doch gar nicht richtig<br />
entscheiden, weiß nicht genug… Hätte ich<br />
gewusst, was Maxi Wander einmal über unser<br />
Gespräch schreiben wird, hätte ich’s klüger<br />
angefangen“, denkt Tanneberger zwanzig<br />
Jahre später an die Begegnung zurück.<br />
Leben eine Alternative<br />
Maxi Wander (1933-1977) wird nach dem Klinikaufenthalt<br />
noch über diese Zeit im Krankenbett<br />
schreiben: „Und ich? Ich darf ruhig<br />
kastriert werden, zum Krüppel gemacht, zum<br />
Greis… Leben um jeden Preis? Und noch<br />
während ich das aufschreibe, meldet sich<br />
mein Widerspruchsgeist: Mir macht es nicht<br />
viel aus, ob ich körperlich verfalle. Aber wird<br />
es auch meinem Mann egal sein? Die Augen<br />
der Männer sind auf Äußerlichkeiten fixiert!“<br />
Ihre Tagebücher und Briefe, die unter dem<br />
Titel Leben wär’ eine prima Alternative nach<br />
ihrem Tod 1979 erscheinen, werden zum<br />
Bestseller und überleben die Wende, nach der<br />
die meisten Ostbücher dauerhaft ins Archiv<br />
einsortiert werden.<br />
Sei gegrüßt und lebe<br />
Nur wenige Jahre zuvor ist Brigitte Reimann<br />
(1933-1973) Patientin bei Tanneberger. Er<br />
denkt in seinen Erinnerungen an ihre Erinnerungen<br />
zurück, damals, als sie schon längst<br />
pragmatisch ahnte, wie es um sie steht.<br />
Tanneberger sieht sie als Frau, Patientin,<br />
Schriftstellerin, ohne Reihenfolge: „Über alles<br />
konnte man mit ihr reden. Fragen, Zuhören,<br />
verstehen wollen, das war ihre Welt. Im Gespräch<br />
war sie meist ganz direkt, manchmal<br />
ungeduldig, ruppig in ihrer Sprache. Dann<br />
wieder ganz gefühlvolle Frau. Immer irgendwie<br />
Kamerad. Was sie bei all’ dem wirklich<br />
gedacht hat? Spiegelbilder.“<br />
Beide Autorinnen sterben vor ihrer Zeit, in<br />
noch recht jungen Jahren. Mit ihren Manuskripten<br />
wissen die Macher im DDR-Staat<br />
wenig anzufangen, aber es werden Bücher,<br />
mit denen sich Hunderttausende Ostdeutsche<br />
identifizieren. Dahinter stehen abgebrochene,<br />
tieftraurige Geschichten, die im dauerhaften<br />
Siegesstaat nicht so recht zu Fortschritt<br />
und Gesundheitswesen passen wollen. So<br />
entsteht die Brigitte Reimann, die nach der<br />
Wende noch einmal von Literaturkritik und<br />
Westfeminismus „entdeckt“ wird. „… und<br />
dann sprang mich die Angst an und ich heulte,<br />
und ich hätte auf die Straße stürzen mögen<br />
und allen zuschreien, dass es ungerecht<br />
ist, und dass ich leben will, nichts weiter als<br />
leben, sei’s unter verrückten Schmerzen, aber<br />
auf dieser Welt sein“, so schreibt die Autorin,<br />
direkt und hart, und die mit „Franziska<br />
Linkerhand“ ein Manuskript hinterlässt, das<br />
möglicherweise vor seiner Veröffentlichung<br />
erst noch einmal gesäubert wurde.<br />
Mit seinen Ärztekollegen muss Tanneberger,<br />
resignierend wieder einmal, die Reimann aufgeben.<br />
„Aber es war gut, später noch einmal<br />
zu lesen, was sie gedacht hat… Auch durch<br />
Brigitte Reimann begriff ich, was mir später so<br />
oft geholfen hat: Nicht beklagen das Leid, sondern<br />
etwas dagegen tun“, so erinnert er sich.