Amazonien: Stadt, Land, Fluss - FDCL
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Überleben durch Anpassung<br />
Kautschukzapfer im<br />
amazonischen Regenwald<br />
Neben anderen Bevölkerungsgruppen gehören<br />
die Kautschukzapfer (seringueiros) <strong>Amazonien</strong>s<br />
wohl zu den tragischsten Figuren des 20.<br />
Jahrhunderts. Ihr Schicksal wurde bestimmt<br />
durch den in den Milchsäften bestimmter<br />
Bäume und Pflanzen enthaltenen Kautschuk.<br />
Dabei war es vornehmlich der als Seringa (Hevea<br />
brasiliensis) bezeichnete Baum, der zentrale<br />
Bedeutung für die Lebensform der nach<br />
ihm benannten seringueiros hatte. Als im Jahr<br />
1839 das Verfahren der Vulkanisation entwickelt<br />
wurde, avancierte der auf diese Weise<br />
dauerhaft elastisch und witterungsbeständig<br />
werdende Kautschuk zu einem der begehrtesten<br />
Rohstoffe der Welt. Gerade in Anbetracht<br />
des aufsteigenden Automobilzeitalters<br />
wurde er als das weiße Gold gehandelt und<br />
trat im ausgehenden 19. Jahrhundert seinen<br />
Siegeszug um die Welt an. Gleichzeitig entstand<br />
im amazonischen Regenwald eines der<br />
unmenschlichsten kapitalistischen Ausbeutungsysteme<br />
der Geschichte, zu dessen zentraler<br />
Gestalt der <strong>Land</strong>arbeiter aus dem brasilianischen<br />
Nordosten wurde.<br />
Der seringal<br />
An den zahlreichen Nebenflüssen des Amazonas,<br />
ausgehend vom Bundesstaat Acre, entstand im<br />
19. Jahrhundert ein Netz von großen Kautschukplantagen,<br />
die so genannten seringais.<br />
Die Eröffnung eines seringais vollzog sich auf<br />
immer gleiche Weise. Nachdem man sich der<br />
Existenz eines dichten Vorkommens an Gummibäumen<br />
versichert hatte, wurde das ausgewählte<br />
Gebiet zunächst erschlossen und unter Kontrolle<br />
gebracht. Dies bedeutet, dass lokal ansässige<br />
indigene Gruppen im Rahmen so genannter correrias<br />
gejagt und getötet bzw. als Arbeitskräfte<br />
versklavt wurden. Ein großer Teil der indigenen<br />
Bevölkerung wurde auf diese Weise zur Flucht in<br />
tiefer entlegene Regenwaldregionen gezwungen.<br />
Ortskundige (Wald-)Arbeiter, mateiros, öffneten<br />
das Gebiet, indem erste Holzbauten, das<br />
Wohnhaus des seringalistas und dessen Personal,<br />
Lagerschuppen sowie die barracão (kommerzielles<br />
Zentrum des seringal) am <strong>Fluss</strong>ufer<br />
errichtet wurden.<br />
Innerhalb des Wirtschaftsgebiets eines Zapfers,<br />
der sogenannten colocação, verlief eine<br />
Zapfstraße kreisförmig an bis zu 120 Gummibäumen<br />
entlang, die täglich zweimal angelaufen<br />
wurden. Die Hütte des Zapfers war dabei Ausgangs-<br />
und Endpunkt der einzelnen Straßen, von<br />
denen jeder Zapfer bis zu drei bediente. Insgesamt<br />
bearbeitete ein Zapfer eine Waldfläche von<br />
ca. 300 bis 500 Hektar. Innerhalb eines seringais<br />
arbeiteten in diesen Strukturen círca 100 Zapfer,<br />
die aufgrund der Ausdehnung des Gebietes nahezu<br />
isoliert ihr klägliches Dasein fristeten.<br />
Neben den mateiros, die innerhalb der ausgewählten<br />
Gebiete Pionierarbeit leisteten, wurden<br />
von den Besitzern außerdem Agenten angestellt,<br />
deren Aufgabe es war, Arbeitskräfte zu rekrutieren.<br />
Neben jenen Glücksrittern, die aus eigenem<br />
Antrieb eine Anstellung in einem seringal suchten,<br />
war es vornehmlich die Bevölkerung der<br />
Gebiete des brasilianischen Nordostens, auf die<br />
sich die Anwerbebemühungen konzentrierten.<br />
Von der Wüste in die Einöde<br />
Die periodisch auftretenden Dürre- und Hungerperioden<br />
in den nordöstlichen Regionen des Sertão<br />
und der Caatinga (Sertão und Caatinga sind<br />
Vegetationszonen im Nordosten Brasiliens) kam<br />
den Interessen der seringalistas nach willigen und<br />
schnell verfügbaren Arbeitskräften entgegen. Verzweiflung<br />
und die Verantwortung für ihre Familien<br />
trieb die zumeist landlosen Bauern auf der Suche<br />
nach Arbeit in die Glück verheißenden Gummiplantagen.<br />
Der Autor Eduardo Galeano spricht<br />
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