Amazonien: Stadt, Land, Fluss - FDCL
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von einer halben Million Bewohner des Nordens,<br />
die, vom „Trugbild des Kautschuks“ angelockt,<br />
auf diese Weise bis zur Jahrhundertwende in das<br />
Amazonasgebiet zogen.<br />
Die Tage andauernden Reisen der <strong>Land</strong>arbeiter<br />
auf den Amazonasdampfern in die seringais kamen<br />
Viehtransporten gleich. Viele wurden zudem<br />
von Hunger und Krankheiten dahingerafft. Diejenigen<br />
jedoch, die die Strapazen überstanden, fanden<br />
sich auf der Plantage angekommen bereits in<br />
ihrer ersten Abhängigkeit wieder. Durch den Vorschuss<br />
für Transport und Essen sowie die Kosten<br />
für die „Erstausstattung“ an Arbeitsgeräten der<br />
seringueiros entstand eine erste Verschuldung,<br />
die den Beginn eines dauerhaften Schuldknechtschaftsverhältnisses<br />
zwischen seringueiro und patrão<br />
(Chef) markierte. Aufgrund eines etablierten<br />
Systems gelang es den Zapfern nur schwer, sich<br />
Vozes da Amazônia<br />
von ihren Schulden zu befreien und damit ihre<br />
Freizügigkeit wiederzuerlangen.<br />
Es entwickelte sich im Lauf der Zeit nun ein System<br />
von Zwischenhandelsfirmen, die ihrerseits<br />
wieder finanziell von den Gummibaronen in den<br />
Amazonasstädten Belém und Manaus abhängig<br />
waren. Die seringueiros waren dabei das letzte Glied<br />
in dieser langen Kette von Abhängigkeit und Verschuldung.<br />
Für den seringueiro hatte der zumeist<br />
monatlich stattfindende „(Zwangs-)Verkauf“ seiner<br />
mühsam produzierten Kautschukballen an den<br />
seringalista eher den Charakter eines Kuhhandels:<br />
Der Kautschuk wurde von diesem weit unter dem<br />
aktuellen Marktpreis angekauft, die Lebensmittel<br />
und Konsumgüter, deren Abnahme verpflichtend<br />
war, wurden dagegen zu Wucherpreisen an die<br />
Zapfer ausgegeben. Die aus dieser oft manipulierten<br />
Gegenrechnung entstandenen Schulden<br />
und selten vorkommenden Salden wurden auf<br />
einem Konto registriert, das für jeden Zapfer geführt<br />
wurde. Aufgrund der Monopolstellung des<br />
Besitzers und des verbreiteten Analphabetentums<br />
unter den seringueiros waren diese jedoch zumeist<br />
nicht in der Lage, die betrügerischen Aktivitäten<br />
des patrão zu kontrollieren beziehungsweise diese<br />
zu umgehen. Auf diese Weise wurden bewusst<br />
Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen, die dessen<br />
Allmacht im seringal verfestigten.<br />
Als ein Ort ohne Recht und Gesetz waren die seringueiros<br />
den Willkürhandlungen des herrschenden<br />
patrão ausgesetzt. Seine Position markierte<br />
dieser unter anderem dadurch, dass das Leben<br />
der Zapfer durch Regeln, Verbote und Kontrolle<br />
bestimmt wurde. Dabei gab es unterschiedliche<br />
Variationen dieses Modells, das den Zapfern ein<br />
Mehr oder Weniger an Autonomie zugestand. So<br />
war es ihnen in der Regel untersagt, ihre Frauen<br />
„Auf der <strong>Land</strong>karte enthüllt uns <strong>Amazonien</strong> seine<br />
schier unendliche Größe. Und dennoch: Die <strong>Land</strong>karte<br />
wird der tatsächlichen Größe und der Biodiversität<br />
<strong>Amazonien</strong>s nicht gerecht.“<br />
Mayron Regis<br />
Fórum Carajás (Maranhão)<br />
Stimmen aus <strong>Amazonien</strong><br />
beziehungsweise Familien mit in den seringal zu<br />
bringen, da dadurch keine volle Konzentration auf<br />
die Arbeit möglich war. Anfänglich war es ihnen<br />
ebenso verboten, ihre Kenntnisse als <strong>Land</strong>arbeiter<br />
im Anbau von Nutzpflanzen in Form von Hausgärten<br />
umzusetzen oder auf Jagd oder Fischfang<br />
zu gehen. Allerdings waren diese Tätigkeiten neben<br />
der zeitaufwendigen Arbeit des Zapfens und<br />
Räucherns ehedem so gut wie unmöglich.<br />
Der körperliche Zustand der Zapfer war überdies<br />
zumeist schlecht. Die einseitige, vitaminarme<br />
Ernährung (Trockenfisch, Maniokmehl, Kaffee)<br />
führte zu Mangelerscheinungen, das Fehlen von<br />
Medikamenten und medizinischen Behandlungsmöglichkeiten<br />
zu schweren Erkrankungen und<br />
häufigen Todesfällen. Die Einsamkeit während<br />
der arbeitsreichen Wochentage im Wald und das<br />
nahezu gänzliche Fehlen sozialer Kontakte (die<br />
colocaçoes lagen mitunter Stundenmärsche von-