Die „Marie Antoinette“ - Roland Verlag GmbH
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24 KOLUMNE<br />
Nachgedacht:<br />
Text: Stephan Cartier<br />
ALLES IN ORDNUNG<br />
Der Mensch wird in den Lehrbüchern<br />
der Anthropologie als „Jäger und<br />
Sammler“ geführt. Nicht als „Sucher<br />
und Finder“; in diesen Disziplinen hat er<br />
evolutionsgeschichtliche Defizite. Deswegen<br />
schätzte der Mensch so sehr die Ordnung.<br />
Wer einen Beleg hierfür möchte,<br />
muss in den Supermarkt. Denn hierhin<br />
geht man nicht, um Dinge zu kaufen, sondern<br />
um sie zu suchen.<br />
Außerhalb des Supermarktes gibt es einen<br />
gütigen Gott, Hegels Weltgeist oder die universale<br />
Vernunft, die diese Ordnung schafft.<br />
Im Laden herrscht allein der Filialleiter.<br />
Sollte es einen Beweis dafür geben, dass die<br />
Ordnung unseres Lebens eben doch von<br />
Menschen gemacht wird, dann ist er hier zu<br />
finden. Wenn man bei der Suche Glück hat.<br />
Das wird besonders deutlich, wenn der<br />
Proband in einem neuen Laden stöbert,<br />
wo völlig unbekannte Ordnungssystematiken<br />
und Begriffe von Kundenführung existieren.<br />
Im fremden Kaufland werden selbst<br />
Himbeersirup oder eine Packung Semmelbrösel<br />
zum Prüfstein für die Ordnung der<br />
Dinge in dieser Welt. Denn beide Waren<br />
werden nicht mutwillig in diesem Labyrinth<br />
der Gänge und Regale von einem bösen<br />
Geist versteckt. Der Laden will ja verdienen,<br />
und das Personal antwortet auf<br />
Fragen gewissenhaft.<br />
Sirupe – die stehen bei den Brotaufstrichen<br />
und Marmeladen. Schließlich werden sie in<br />
der Regel zum Frühstück oder Abendbrot<br />
konsumiert. Kriterium für diese Ordnung<br />
wären also der soziale Kontext und die Verwendung<br />
des Produkts. Am bezeichneten<br />
Platz angekommen, wird man enttäuscht,<br />
findet nur Waldmeistersirup, Erdbeersirup<br />
und einige andere Geschmacksrichtungen<br />
mehr. Also wird die Anfrage präzisiert:<br />
Himbeersirup ist gesucht. Ach, so – exotische<br />
Fruchtgetränke stehen bei den Säften.<br />
Wahrscheinlich, so mutmaßt man, weil<br />
dort die teureren Trinkprodukte konzentriert<br />
sind. Entscheidend für die Einordnung<br />
wäre also der Wert der Ware.<br />
Semmelbrösel vermutet man in der Nähe<br />
der Brotwaren – der gemeinsamen Herkunft<br />
wegen. Man kann es aber auch nach seinem<br />
pulvrigen Aggregatzustand ins Regal ordnen,<br />
und zu den Instant-Produkten legen.<br />
Davon ist man jedenfalls in diesem Laden<br />
hier felsenfest überzeugt, wie nach einer<br />
Viertelstunde des Herumirrens klar wird.<br />
All diese Standortbegründungen machen<br />
auf ihre Weise Sinn. Und weil dies so ist,<br />
steht am Ende eines Einkaufes, der für zehn<br />
Produkte des alltäglichen Verzehrs fast<br />
die Dauer eines Fußballspiels in Anspruch<br />
nahm, die Erkenntnis, dass nur ein einziges<br />
Prinzip die Ordnung im Supermarkt über<br />
alle Grenzen des Wissens, der sozialen Herkunft<br />
und religiösen Gestimmtheit hinweg<br />
garantieren kann: das Alphabet.<br />
<strong>Die</strong> großartige Idee der Enzyklopädisten<br />
des 17. und 18. Jahrhunderts, das Wissen<br />
durch eine ganz und gar willkürliche Systematik<br />
der Buchstabenfolge zugänglich<br />
zu machen, hat ihren Erfolg über mehr als<br />
300 Jahre hinweg bewiesen. <strong>Die</strong> neuzeitliche<br />
„Ordnung der Dinge“, von der Michel<br />
Foucault so bestechend schrieb, bestand<br />
eben darin, ohne Rücksicht auf sachliche<br />
Zusammenhänge, die Worte von den Gegenständen<br />
zu trennen, die sie bezeichnen.<br />
Was neue Möglichkeiten schafft: „Wenn<br />
aber die Sprache nicht mehr unmittelbar<br />
den Dingen ähnelt, die sie bezeichnet, ist<br />
sie dennoch nicht von der Welt getrennt.<br />
In einer anderen Form ist sie weiterhin der<br />
Ort der Enthüllungen und hat teil an dem<br />
Raum, in dem die Wahrheit sich gleichzeitig<br />
manifestiert und äußert“, versprach<br />
Foucault.<br />
In der Demokratie der Dinge ständen im<br />
Supermarkt die Dosen mit „Linsensuppe“<br />
direkt neben der Mundspülung „Listerine“<br />
und das „Bier“ neben dem Bratfett „Biskin“.<br />
All diese Produkte würden keinerlei<br />
Verwandtschaften im Gebrauch, der Herkunft<br />
oder der Verwendung mehr haben, –<br />
aber man könnte sie einfach finden.<br />
Auch das Verfassen von Einkaufszetteln<br />
und deren Abarbeitung wäre so ein Kinderspiel.<br />
Kein Hinundherlaufen mehr, sondern<br />
einfach nach dem Alphabet geordnet,<br />
könnte man die Liste vom Eingang, wo sich<br />
der Aal findet, bis zum Zucker kurz vor der<br />
Kasse abarbeiten.<br />
Zu guter Letzt hätte dieses lexikalische<br />
Prinzip im Supermarkt der gedruckten Enzyklopädie<br />
sogar noch etwas voraus. Ist<br />
eine Ware ausverkauft oder fehlt sie ganz<br />
im Sortiment, kann sie im Regal schnell<br />
aufgefüllt oder ergänzt werden. Wer aber<br />
hätte schon im „Großen Brockhaus“ oder<br />
der „Encyclopaedia Britannica“ ein Recht<br />
auf jedes Wort dieser Welt. Für fehlende<br />
oder beschädigte Begriffe gibt es hier leider<br />
keinen Schadensersatz.