Segen oder FluchEine Auseinandersetzung mit „<strong>Subsidiarität</strong>“ alsKonzept muss mit großer Sorgfalt behandelt werden,da sie vom politischen, ökonomischen, sozialenund religiösen Umfeld abhängt.Ich spreche vom Libanon, in dem ich lebe, der diese Ideeseit jeher und in allen Bereichen verwirklicht. Ist der Libanondeshalb ein Beispiel für Demokratie, ein Beispiel demes zu folgen gilt? Ganz im Gegenteil. <strong>Subsidiarität</strong> wirktsich hier so aus, dass die Ausübung staatlicher Rechte undPflichten gar verhindert wird, in einigen Fällen nicht exitentist. Apropros Libanon: vielleicht ist der Begriff der<strong>Subsidiarität</strong> für uns oder die internationale Diskussionnicht der bestgeeignete, da <strong>Subsidiarität</strong> eine Delegationoder Übertragung von hoheitlicher Autorität auf eine kleinereEinheit impliziert. Wir müssten über das Prinzip derÜbertragung staatlicher Aufgaben sprechen, wobei letzterernur das Prinzip billigt.Um diese Situation zu veranschaulichen hier ein Beispiel:die persönliche Situation der libanesischen Staatsbürger-_innen und das kulturelle Leben im Libanon. Im Libanon,einem Land mit vier Millionen Einwohner_innen lebenMenschen aus 18 verschiedenen Religionsgemeinschaften.Die gefundene Strategie zur Lösung der persönlichenStatusfragen – und diese sind vielschichtig (Heirat, Ableben,Testament, ...) – besteht darin, diese Aufgaben aufreligiöse Körperschaften zu übertragen, wobei der Staatdie Entscheidungen religiöser Gerichte zu billigen hat.Können wir hierbei von <strong>Subsidiarität</strong> sprechen, die bedeutet,dass dieser Entscheidungsträger effektiver ist als dasHandeln der machtgewährenden Institution? Die Machtübertragungan Religionsgemeinschaften bedeutet einenMachtzufluss, der Nichts mehr mit dem Glauben an sichzu tun hat. Der sich entmachtet fühlende Staat trittschließlich zu Gunsten von mehreren Religionsgemeinschaftenvon immer mehr seiner Aufgaben zurück. UndBildung – insbesondere Diplomstudiengänge – Gesundheitswesenund Krankenhäuser werden zu Aufgaben vonReligionsgemeinschaften, der Staat als Wettbewerberspielt eine untergeordnete, schwache Rolle und dient nurals Anbieter von Subventionen. Der einzige Vorteil diesesSystems liegt in der Tatsache, dass die Verantwortung fürdas Wohlergehen der Bevölkerung auf eine große Anzahlvon Spieler_innen verteilt wird, was die Probleme abfedert.Das kulturelle Leben ist frei von der Bevormundung durchden Staat und die Religionsgemeinschaften. Interessanterweiseist dies das Ergebnis der Arbeit von hundertenprivater Kultureinrichtungen über viele Generationen,lange bevor es gemeinnützige Organisationen (NGOs)gab. Es handelt sich hiermit um die Übertragung staatlicherAufgaben und nicht um die Übertragung der Staatsgewaltan diese Institutionen. Tatsächlich sind dieseEinrichtungen besorgt der Staat könnte versuchen sicheinzumischen oder zu bestimmen. Diese privaten Institutionenhaben es geschafft sich zu befreien, weil es durch10
Steffen HaasMäzenatentum und die Beteiligung der Öffentlichkeit gelang,ihre Finanzierung zu sichern. In diesem Bereichkönnten wir vom Erfolg Libanons sprechen.Letztlich hat das Prinzip der <strong>Subsidiarität</strong> in all den demokratischenLändern eine Berechtigung, die ihren Bürger_innenakzeptable Lebensverhältnisse bietet. Tatsächlichist der Staat in Entwicklungsländern vergleichsweiseschwach. Die Gründe sind vielfältig. Diese Länderhaben vor kurzem die Unabhängigkeit erhalten, oft stimmenihre Grenzen nicht mit der Geschichte überein undselbst wenn diese geografisch zusammenfallen, gibt esnichts, weder Elite noch politische Kultur, aber zur gleichenZeit sind diese Länder mehr und mehr offen für die(Welt-) Bevölkerung und ihre Menschen, die oft jung undungeduldig sind.Die Schwäche des Staates führt dazu, dass indigene Gruppenund manchmal dem Staat fremde Gruppen diesen ersetzenund versetzt ihn in eine Position, aus der heraus erseine Rechte zurückgewinnen muss, bevor er diese delegierenkann.< Stand 18.01.2013Emil Nassar, Libanese,geb. 1939 in Beirut, Studium der Sozialökonomie und Sozialplanung.Forschungsdirektor 1968 bis 1980, Finanzberater 1980bis 1990, 1994 Gründer der Publikation „l´Agenda Culturel“(Kulturagenda) und seitdem deren Direktor, 1999 Gründer undGeneralsekretär des libanesischen Sponsoringvereins, Spezialistfür Kreativwirtschaft, verheiratet, Vater von drei Kindern.Übersetzt von Uli Gläss (International Munich Art Lab München).11