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Es war einmal.. .. eine Zelle und sie wurde nimmermehr gesehen?

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<strong>Es</strong>say<br />

prämien“ zu zahlen. Der Gedanke hinter<br />

dieser Tonnenideologie ist durchaus nachvollziehbar.<br />

Wer mehr Schuhe produziert,<br />

braucht mehr Material, dessen Verbrauch<br />

sich wiederum in Gewichtseinheiten messen<br />

lässt. Doch das Resultat <strong>war</strong> anders, als<br />

die Experten sich dies vorgestellt hatten. Im<br />

Verlauf weniger Jahre <strong>wurde</strong>n die Schuhe<br />

immer schwerer. Die zuvor nur wenig motivierten<br />

Arbeiter in der Schuhindustrie<br />

zeigten sich plötzlich innovativ <strong>und</strong> entwickelten<br />

kontinuierlich neue Modelle, bei<br />

denen <strong>sie</strong> noch mehr Material verwenden<br />

konnten. Materialintensität ist allerdings<br />

nicht gerade <strong>eine</strong> Eigenschaft, die der Konsument<br />

beim Kauf <strong>eine</strong>s Schuhes besonders<br />

schätzt. Statt die Effizienz der Wirtschaft<br />

zu erhöhen, bewirkte der künstlich inszenierte<br />

Wettbewerb die Produktion von immer<br />

klobigeren <strong>und</strong> unbequemeren Schuhen,<br />

die schließlich niemand mehr tragen<br />

wollte. Die hohe „Wettbewerbsfähigkeit“<br />

der sowjetischen Arbeiter in der Schuhindustrie<br />

erwies sich folglich als fatal.<br />

Schön, wird man sagen – das beweist<br />

eben die Unmöglichkeit <strong>eine</strong>s planwirtschaftlichen<br />

Systems, welches zum Glück<br />

der Vergangenheit angehört. Die Schuhversorgung<br />

klappt in unseren Marktwirtschaften<br />

nämlich ganz hervorragend, <strong>und</strong><br />

der Konsument kann aus <strong>eine</strong>m Riesenangebot<br />

an modischen <strong>und</strong> leichten Schuhen<br />

auswählen.<br />

Doch wenn wir uns <strong>einmal</strong> etwas genauer<br />

umsehen, dann können wir heute<br />

ganz ähnliche Phänomene wie in der<br />

planwirtschaftlich organi<strong>sie</strong>rten Schuhindustrie<br />

beobachten. Wiederum liefern sich<br />

tausende von Menschen mit Akribie <strong>und</strong><br />

Fleiß in großem Umfang Wettbewerbe um<br />

irrelevante Leistungen <strong>und</strong> Produkte, die<br />

niemand haben will <strong>und</strong> deren Nutzen für<br />

den Normalsterblichen<br />

„Künstliche Wettbewerbe<br />

um messbare Kennzahlen<br />

pervertieren das Verhalten.“<br />

im Verborgenen bleibt.<br />

Nur ist der normale<br />

Konsument meist weniger<br />

davon betroffen,<br />

als durch die zu schweren<br />

Schuhe in der Sowjetischen Planwirtschaft.<br />

Mit vielen der durch künstliche<br />

Wettbewerbe in Wissenschaft, Bildung oder<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen erzeugten „Leistungen“<br />

<strong>und</strong> „Produkte“ kommt er im Alltag gar<br />

nicht in Kontakt <strong>und</strong> merkt somit unmittelbar<br />

kaum etwas von diesem ganzen Unsinn.<br />

Doch nicht nur die Produkte, auch das<br />

Verhalten wird durch künstlich inszenierte<br />

Wettbewerbe um messbare Kennzahlen<br />

pervertiert.<br />

Ganz allgemein ist es mit der Korrelation<br />

von gemessenen Indikatoren <strong>und</strong><br />

tatsächlich relevanten Leistungen in <strong>eine</strong>r<br />

modernen Wirtschaft nicht weit her. Nehmen<br />

wir als Beispiel <strong>einmal</strong> die K<strong>und</strong>enzufriedenheit,<br />

deren Verbesserung sich viele<br />

Organisationen auf die Fahne geschrieben<br />

haben. Heutzutage spricht man nämlich<br />

überall von K<strong>und</strong>en: Staatsbürger sind<br />

K<strong>und</strong>en der öffentlichen Verwaltungen,<br />

Studenten sind K<strong>und</strong>en der Universitäten<br />

<strong>und</strong> Patienten sind K<strong>und</strong>en ihrer Ärzte.<br />

Demzufolge ist die<br />

Steigerung der K<strong>und</strong>enzufriedenheit<br />

das<br />

A <strong>und</strong> O nicht nur jeder<br />

privatwirtschaftlichen,<br />

sondern auch<br />

fast jeder öffentlichen Tätigkeit. Doch die<br />

Erzeugung von „K<strong>und</strong>enzufriedenheit“<br />

lässt sich als Leistung nicht direkt quantifizieren<br />

<strong>und</strong> messen. Also müssen Indikatoren<br />

her, die diese K<strong>und</strong>enzufriedenheit<br />

irgendwie abbilden.<br />

Mit der Entwicklung solcher Indikatoren<br />

sind Wissenschaftler <strong>und</strong> Berater seit<br />

längerer Zeit intensiv beschäftigt. Ein Aspekt<br />

der K<strong>und</strong>enzufriedenheit ist zum Beispiel<br />

der schnelle <strong>und</strong> effiziente Umgang<br />

mit Beschwerden. Um diesem Umgang auf<br />

die Spur zu kommen, kann man etwa ermitteln,<br />

wie viele K<strong>und</strong>en länger als zehn<br />

Tage auf die Behandlung ihrer Beschwerde<br />

<strong>war</strong>ten mussten. Dieser Indikator hat den<br />

Vorteil, dass er leicht messbar ist, aber den<br />

Nachteil, dass s<strong>eine</strong> Erhöhung kaum etwas<br />

zur K<strong>und</strong>enzufriedenheit beiträgt. Werden<br />

die dafür zuständigen Mitarbeiter nämlich<br />

aufgr<strong>und</strong> dieses Indikators beurteilt, dann<br />

werden <strong>sie</strong> sich bald darauf konzentrieren,<br />

Beschwerden von K<strong>und</strong>en zu erledigen,<br />

die bereits acht oder neun Tage <strong>war</strong>ten, so<br />

dass die Grenze von zehn Tagen in k<strong>eine</strong>m<br />

Fall überschritten wird. Sie gewinnen aber<br />

nichts, wenn <strong>sie</strong> gerade neu eintreffende<br />

Beschwerden bearbeiten, denn deren Bearbeitung<br />

führt zu k<strong>eine</strong>r<br />

Verbesserung des<br />

gemessenen Resultats.<br />

Die Folge davon ist,<br />

dass die durchschnittliche<br />

Zeit für die Bearbeitung<br />

von Beschwerden zunehmen wird,<br />

was der K<strong>und</strong>enzufriedenheit insgesamt<br />

nicht zu- sondern abträglich ist.<br />

Natürlich wird man dieses kontraproduktive<br />

Resultat früher oder später (meistens<br />

später) anhand der Reaktionen von<br />

K<strong>und</strong>en bemerken, <strong>und</strong> nach langen Diskussionen<br />

<strong>und</strong> Sitzungen darauf kommen,<br />

nicht die Zahl der Beschwerden zu messen,<br />

die länger als zehn Tage nicht bearbeitet<br />

<strong>wurde</strong>n, sondern die durchschnittliche für<br />

die Bearbeitung aufgewendete Zeit. Doch<br />

auch die Freude über diese zunächst brillant<br />

anmutende Lösung wird nicht lange<br />

anhalten. Beurteilt man die Mitarbeiter<br />

„Wie die Indikatoren mit der<br />

gesuchten Leistung zusammenhängen,<br />

wird zur Black Box.“<br />

nach dem neuen Indikator, dann werden<br />

<strong>sie</strong> sich mit der Zeit auf die leichten Fälle<br />

konzentrieren <strong>und</strong> diese auch umgehend<br />

beantworten. Schwierige Fälle lassen <strong>sie</strong><br />

hingegen links liegen, denn deren Bearbeitung<br />

„lohnt“ sich nicht mehr. Auf diese<br />

Weise wird sich der gemessene Indikator<br />

z<strong>war</strong> verbessern, doch die K<strong>und</strong>en, deren<br />

Beschwerden<br />

unerledigt bleiben,<br />

werden ihr Missbehagen<br />

kaum für sich<br />

behalten <strong>und</strong> dem<br />

Image der Organisation<br />

schaden.<br />

Die beiden eben beschriebenen Verhaltensreaktionen<br />

auf die Beurteilung<br />

von Mitarbeitern anhand von Indikatoren<br />

sind absolut typisch. Im ersten Fall konzentrierten<br />

<strong>sie</strong> sich darauf, <strong>eine</strong>n bestimmten<br />

messbaren Aspekt der K<strong>und</strong>enzufriedenheit<br />

zu erfüllen <strong>und</strong> vergaßen das eigentliche<br />

Ziel ihrer Tätigkeit. Im zweiten Fall<br />

konzentrierten sich die Mitarbeiter auf<br />

die Bearbeitung der leichten Fälle <strong>und</strong> ließen<br />

die komplizierten Beschwerden links<br />

liegen. Sie begannen damit Rosinen zu<br />

picken, was im angelsächsischen Sprachraum<br />

unter dem Begriff „Cream Skimming“<br />

oder „Cherry Picking“ diskutiert wird.<br />

Doch zurück zu unserem Beispiel <strong>und</strong><br />

der Suche nach Indikatoren zur Messung<br />

von „K<strong>und</strong>enzufriedenheit“. Hat man <strong>einmal</strong><br />

festgestellt, dass sich der erfolgreiche<br />

Umgang mit Beschwerden mit k<strong>eine</strong>m Indikator<br />

adäquat beurteilen lässt, wird man<br />

sicher bald zur Erkenntnis gelangen, dass<br />

es stattdessen ein ganzes Kennzahlen- oder<br />

Indikatorensystem braucht. Im einfachsten<br />

Fall kombiniert dieses einfach die beiden<br />

oben schon erwähnten Indikatoren. <strong>Es</strong><br />

wird also die Zahl der Beschwerden, die<br />

länger als zehn Tage nicht bearbeitet <strong>wurde</strong>n,<br />

kombiniert mit der durchschnittlichen<br />

Bearbeitungszeit – <strong>und</strong> beide Indikatoren<br />

werden dann mit je fünfzig Prozent gewichtet.<br />

Doch schon bei <strong>eine</strong>m so einfachen Indikatorensystem<br />

ist vom Schiff aus nicht<br />

mehr erkennbar, welche Anreize dadurch<br />

genau geschaffen werden. Z<strong>war</strong> werden<br />

die durch die einzelnen Indikatoren gesetzten<br />

negativen Anreize abgeschwächt,<br />

aber genau dasselbe gilt auch für die beabsichtigten<br />

positiven Anreize. So wird der<br />

Anreiz, schwierige Fälle einfach liegen zu<br />

lassen, geringer, aber genau dasselbe gilt<br />

auch für den beabsichtigten Anreiz, die<br />

durchschnittliche Bearbeitungszeit zu reduzieren.<br />

Je komplexere Indikatorensysteme eingeführt<br />

werden, umso komplexer werden<br />

auch die dadurch erzeugten Anreize. Für<br />

20<br />

7-8/2016 Laborjournal

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