Es war einmal.. .. eine Zelle und sie wurde nimmermehr gesehen?
LJ_16_07
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<strong>Es</strong>say<br />
prämien“ zu zahlen. Der Gedanke hinter<br />
dieser Tonnenideologie ist durchaus nachvollziehbar.<br />
Wer mehr Schuhe produziert,<br />
braucht mehr Material, dessen Verbrauch<br />
sich wiederum in Gewichtseinheiten messen<br />
lässt. Doch das Resultat <strong>war</strong> anders, als<br />
die Experten sich dies vorgestellt hatten. Im<br />
Verlauf weniger Jahre <strong>wurde</strong>n die Schuhe<br />
immer schwerer. Die zuvor nur wenig motivierten<br />
Arbeiter in der Schuhindustrie<br />
zeigten sich plötzlich innovativ <strong>und</strong> entwickelten<br />
kontinuierlich neue Modelle, bei<br />
denen <strong>sie</strong> noch mehr Material verwenden<br />
konnten. Materialintensität ist allerdings<br />
nicht gerade <strong>eine</strong> Eigenschaft, die der Konsument<br />
beim Kauf <strong>eine</strong>s Schuhes besonders<br />
schätzt. Statt die Effizienz der Wirtschaft<br />
zu erhöhen, bewirkte der künstlich inszenierte<br />
Wettbewerb die Produktion von immer<br />
klobigeren <strong>und</strong> unbequemeren Schuhen,<br />
die schließlich niemand mehr tragen<br />
wollte. Die hohe „Wettbewerbsfähigkeit“<br />
der sowjetischen Arbeiter in der Schuhindustrie<br />
erwies sich folglich als fatal.<br />
Schön, wird man sagen – das beweist<br />
eben die Unmöglichkeit <strong>eine</strong>s planwirtschaftlichen<br />
Systems, welches zum Glück<br />
der Vergangenheit angehört. Die Schuhversorgung<br />
klappt in unseren Marktwirtschaften<br />
nämlich ganz hervorragend, <strong>und</strong><br />
der Konsument kann aus <strong>eine</strong>m Riesenangebot<br />
an modischen <strong>und</strong> leichten Schuhen<br />
auswählen.<br />
Doch wenn wir uns <strong>einmal</strong> etwas genauer<br />
umsehen, dann können wir heute<br />
ganz ähnliche Phänomene wie in der<br />
planwirtschaftlich organi<strong>sie</strong>rten Schuhindustrie<br />
beobachten. Wiederum liefern sich<br />
tausende von Menschen mit Akribie <strong>und</strong><br />
Fleiß in großem Umfang Wettbewerbe um<br />
irrelevante Leistungen <strong>und</strong> Produkte, die<br />
niemand haben will <strong>und</strong> deren Nutzen für<br />
den Normalsterblichen<br />
„Künstliche Wettbewerbe<br />
um messbare Kennzahlen<br />
pervertieren das Verhalten.“<br />
im Verborgenen bleibt.<br />
Nur ist der normale<br />
Konsument meist weniger<br />
davon betroffen,<br />
als durch die zu schweren<br />
Schuhe in der Sowjetischen Planwirtschaft.<br />
Mit vielen der durch künstliche<br />
Wettbewerbe in Wissenschaft, Bildung oder<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen erzeugten „Leistungen“<br />
<strong>und</strong> „Produkte“ kommt er im Alltag gar<br />
nicht in Kontakt <strong>und</strong> merkt somit unmittelbar<br />
kaum etwas von diesem ganzen Unsinn.<br />
Doch nicht nur die Produkte, auch das<br />
Verhalten wird durch künstlich inszenierte<br />
Wettbewerbe um messbare Kennzahlen<br />
pervertiert.<br />
Ganz allgemein ist es mit der Korrelation<br />
von gemessenen Indikatoren <strong>und</strong><br />
tatsächlich relevanten Leistungen in <strong>eine</strong>r<br />
modernen Wirtschaft nicht weit her. Nehmen<br />
wir als Beispiel <strong>einmal</strong> die K<strong>und</strong>enzufriedenheit,<br />
deren Verbesserung sich viele<br />
Organisationen auf die Fahne geschrieben<br />
haben. Heutzutage spricht man nämlich<br />
überall von K<strong>und</strong>en: Staatsbürger sind<br />
K<strong>und</strong>en der öffentlichen Verwaltungen,<br />
Studenten sind K<strong>und</strong>en der Universitäten<br />
<strong>und</strong> Patienten sind K<strong>und</strong>en ihrer Ärzte.<br />
Demzufolge ist die<br />
Steigerung der K<strong>und</strong>enzufriedenheit<br />
das<br />
A <strong>und</strong> O nicht nur jeder<br />
privatwirtschaftlichen,<br />
sondern auch<br />
fast jeder öffentlichen Tätigkeit. Doch die<br />
Erzeugung von „K<strong>und</strong>enzufriedenheit“<br />
lässt sich als Leistung nicht direkt quantifizieren<br />
<strong>und</strong> messen. Also müssen Indikatoren<br />
her, die diese K<strong>und</strong>enzufriedenheit<br />
irgendwie abbilden.<br />
Mit der Entwicklung solcher Indikatoren<br />
sind Wissenschaftler <strong>und</strong> Berater seit<br />
längerer Zeit intensiv beschäftigt. Ein Aspekt<br />
der K<strong>und</strong>enzufriedenheit ist zum Beispiel<br />
der schnelle <strong>und</strong> effiziente Umgang<br />
mit Beschwerden. Um diesem Umgang auf<br />
die Spur zu kommen, kann man etwa ermitteln,<br />
wie viele K<strong>und</strong>en länger als zehn<br />
Tage auf die Behandlung ihrer Beschwerde<br />
<strong>war</strong>ten mussten. Dieser Indikator hat den<br />
Vorteil, dass er leicht messbar ist, aber den<br />
Nachteil, dass s<strong>eine</strong> Erhöhung kaum etwas<br />
zur K<strong>und</strong>enzufriedenheit beiträgt. Werden<br />
die dafür zuständigen Mitarbeiter nämlich<br />
aufgr<strong>und</strong> dieses Indikators beurteilt, dann<br />
werden <strong>sie</strong> sich bald darauf konzentrieren,<br />
Beschwerden von K<strong>und</strong>en zu erledigen,<br />
die bereits acht oder neun Tage <strong>war</strong>ten, so<br />
dass die Grenze von zehn Tagen in k<strong>eine</strong>m<br />
Fall überschritten wird. Sie gewinnen aber<br />
nichts, wenn <strong>sie</strong> gerade neu eintreffende<br />
Beschwerden bearbeiten, denn deren Bearbeitung<br />
führt zu k<strong>eine</strong>r<br />
Verbesserung des<br />
gemessenen Resultats.<br />
Die Folge davon ist,<br />
dass die durchschnittliche<br />
Zeit für die Bearbeitung<br />
von Beschwerden zunehmen wird,<br />
was der K<strong>und</strong>enzufriedenheit insgesamt<br />
nicht zu- sondern abträglich ist.<br />
Natürlich wird man dieses kontraproduktive<br />
Resultat früher oder später (meistens<br />
später) anhand der Reaktionen von<br />
K<strong>und</strong>en bemerken, <strong>und</strong> nach langen Diskussionen<br />
<strong>und</strong> Sitzungen darauf kommen,<br />
nicht die Zahl der Beschwerden zu messen,<br />
die länger als zehn Tage nicht bearbeitet<br />
<strong>wurde</strong>n, sondern die durchschnittliche für<br />
die Bearbeitung aufgewendete Zeit. Doch<br />
auch die Freude über diese zunächst brillant<br />
anmutende Lösung wird nicht lange<br />
anhalten. Beurteilt man die Mitarbeiter<br />
„Wie die Indikatoren mit der<br />
gesuchten Leistung zusammenhängen,<br />
wird zur Black Box.“<br />
nach dem neuen Indikator, dann werden<br />
<strong>sie</strong> sich mit der Zeit auf die leichten Fälle<br />
konzentrieren <strong>und</strong> diese auch umgehend<br />
beantworten. Schwierige Fälle lassen <strong>sie</strong><br />
hingegen links liegen, denn deren Bearbeitung<br />
„lohnt“ sich nicht mehr. Auf diese<br />
Weise wird sich der gemessene Indikator<br />
z<strong>war</strong> verbessern, doch die K<strong>und</strong>en, deren<br />
Beschwerden<br />
unerledigt bleiben,<br />
werden ihr Missbehagen<br />
kaum für sich<br />
behalten <strong>und</strong> dem<br />
Image der Organisation<br />
schaden.<br />
Die beiden eben beschriebenen Verhaltensreaktionen<br />
auf die Beurteilung<br />
von Mitarbeitern anhand von Indikatoren<br />
sind absolut typisch. Im ersten Fall konzentrierten<br />
<strong>sie</strong> sich darauf, <strong>eine</strong>n bestimmten<br />
messbaren Aspekt der K<strong>und</strong>enzufriedenheit<br />
zu erfüllen <strong>und</strong> vergaßen das eigentliche<br />
Ziel ihrer Tätigkeit. Im zweiten Fall<br />
konzentrierten sich die Mitarbeiter auf<br />
die Bearbeitung der leichten Fälle <strong>und</strong> ließen<br />
die komplizierten Beschwerden links<br />
liegen. Sie begannen damit Rosinen zu<br />
picken, was im angelsächsischen Sprachraum<br />
unter dem Begriff „Cream Skimming“<br />
oder „Cherry Picking“ diskutiert wird.<br />
Doch zurück zu unserem Beispiel <strong>und</strong><br />
der Suche nach Indikatoren zur Messung<br />
von „K<strong>und</strong>enzufriedenheit“. Hat man <strong>einmal</strong><br />
festgestellt, dass sich der erfolgreiche<br />
Umgang mit Beschwerden mit k<strong>eine</strong>m Indikator<br />
adäquat beurteilen lässt, wird man<br />
sicher bald zur Erkenntnis gelangen, dass<br />
es stattdessen ein ganzes Kennzahlen- oder<br />
Indikatorensystem braucht. Im einfachsten<br />
Fall kombiniert dieses einfach die beiden<br />
oben schon erwähnten Indikatoren. <strong>Es</strong><br />
wird also die Zahl der Beschwerden, die<br />
länger als zehn Tage nicht bearbeitet <strong>wurde</strong>n,<br />
kombiniert mit der durchschnittlichen<br />
Bearbeitungszeit – <strong>und</strong> beide Indikatoren<br />
werden dann mit je fünfzig Prozent gewichtet.<br />
Doch schon bei <strong>eine</strong>m so einfachen Indikatorensystem<br />
ist vom Schiff aus nicht<br />
mehr erkennbar, welche Anreize dadurch<br />
genau geschaffen werden. Z<strong>war</strong> werden<br />
die durch die einzelnen Indikatoren gesetzten<br />
negativen Anreize abgeschwächt,<br />
aber genau dasselbe gilt auch für die beabsichtigten<br />
positiven Anreize. So wird der<br />
Anreiz, schwierige Fälle einfach liegen zu<br />
lassen, geringer, aber genau dasselbe gilt<br />
auch für den beabsichtigten Anreiz, die<br />
durchschnittliche Bearbeitungszeit zu reduzieren.<br />
Je komplexere Indikatorensysteme eingeführt<br />
werden, umso komplexer werden<br />
auch die dadurch erzeugten Anreize. Für<br />
20<br />
7-8/2016 Laborjournal