Es war einmal.. .. eine Zelle und sie wurde nimmermehr gesehen?
LJ_16_07
LJ_16_07
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Es</strong>say<br />
im Raum, die ihm die Gr<strong>und</strong>lage für den<br />
Bau <strong>eine</strong>s molekularen Modells liefert.<br />
So viel zum technischen Aspekt. Wenn<br />
wir dieser Tage während <strong>eine</strong>r verdienten<br />
Kaffeepause zum Wissenschaftsmagazin<br />
unserer Wahl greifen, seien es Science, Nature<br />
oder – bevorzugt – das Laborjournal,<br />
so wird schnell deutlich, dass sich in der<br />
Welt der Strukturbiologie etwas ereignet<br />
hat. Fast jeder Artikel, der sich nicht<br />
mit CRISPR-Cas9 oder <strong>eine</strong>m Flug zum<br />
Mars befasst, beschreibt <strong>eine</strong> neue Molekülstruktur,<br />
die mit Hilfe der Elektronenmikroskopie<br />
in <strong>eine</strong>r Qualität aufgeklärt<br />
<strong>wurde</strong>, die bis vor Kurzem der kristallographischen<br />
Röntgenbeugung vorbehalten<br />
<strong>war</strong> – <strong>und</strong> dies ohne die Grenzen, die<br />
durch die Kristalli<strong>sie</strong>rbarkeit gesetzt sind.<br />
Die Kommentare reichen von ‚The end of<br />
blob-ology’ (Nature Methods) bis zu ‚the<br />
revolution will not be crystallized’ (Nature).<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage dieser Revolution bildet<br />
<strong>eine</strong> Reihe erstaunlicher technischer Neu<strong>und</strong><br />
Weiterentwicklungen der vergangenen<br />
Jahre. Insbesondere die immer weiter fortschreitende<br />
Detektor-Technologie beschert<br />
beiden Techniken durch CMOS-ba<strong>sie</strong>rte,<br />
direkte Photonen- beziehungsweise Elektronenzähler<br />
um Größenordnungen höhere<br />
Empfindlichkeiten.<br />
Zusammen mit der Tiefkühlung – <strong>und</strong><br />
bald weiter verstärkt durch Phasenkontrast-Optiken<br />
(‚phase plates’) – hat insbesondere<br />
die Elektronenmikroskopie <strong>eine</strong><br />
Darstellungsqualität erreicht, die für Jahrzehnte<br />
immer nur als vages Versprechen<br />
weit entfernt am Horizont erschien. Ribosomen,<br />
Spleißosomen, aber auch integrale<br />
Membranprot<strong>eine</strong> <strong>und</strong> Enzyme werden in<br />
nie dagewesener Präzision aufgelöst, <strong>und</strong><br />
fast täglich vermelden Strukturbiologen<br />
neue Auflösungsrekorde<br />
(derzeit ca.<br />
1,9 Å) oder Rekorde<br />
der minimalen Proteingröße<br />
(derzeit<br />
120-200 kDa).<br />
Die Cryo-Elektronenmikroskopie<br />
ist für Nature Methods die Methode des<br />
Jahres, <strong>und</strong> nicht von ungefähr lautete die<br />
ursprüngliche Vorgabe des Laborjournals<br />
für diesen <strong>Es</strong>say: ”Was kann die Kristallographie<br />
noch immer besser als Cryo-EM <strong>und</strong><br />
NMR <strong>und</strong> wo ergänzt <strong>sie</strong> diese?“ So wichtig<br />
die Klärung der Frage nach dem schnellsten<br />
Sportwagen, dem größten Pool <strong>und</strong> der besten<br />
Methode zweifellos auch unter Strukturforschern<br />
sein mag, <strong>und</strong> so verständlich<br />
es ist, bei der Beantragung <strong>eine</strong>s Großgeräts<br />
die Fähigkeiten dieses Geräts auch adäquat<br />
hervorzuheben – so sehr geht der hier angesprochene<br />
Vergleich an der eigentlichen<br />
„Wir lösen Kristallstrukturen<br />
nicht mehr länger, weil die zugehörigen<br />
Prot<strong>eine</strong> zufällig gut<br />
kristalli<strong>sie</strong>ren."<br />
Bedeutung <strong>und</strong> Chance der gegenwärtigen<br />
Entwicklung vorbei. Die Fortschritte der<br />
jüngsten Zeit sollen <strong>und</strong> dürfen nicht zu<br />
<strong>eine</strong>m Streit unter Methodikern führen. Sie<br />
sollten uns vielmehr vor Augen führen, dass<br />
die Strukturbiologie in heutiger Zeit ein<br />
multivariantes (gerne auch ‚integratives’)<br />
Werkzeug für molekulare Fragestellungen<br />
geworden ist. In s<strong>eine</strong>r methodischen Vielfalt<br />
(XRD, EM, NMR, X-MS, FRET, [your<br />
favourite method here]) erlaubt <strong>sie</strong> es uns<br />
endlich, die tatsächlichen biologischen Fragestellungen<br />
anzupacken.<br />
Wir lösen Kristallstrukturen<br />
nicht<br />
mehr länger, weil die<br />
zugehörigen Prot<strong>eine</strong><br />
zufällig gut kristalli<strong>sie</strong>ren.<br />
Das große Ribosom ist nicht mehr<br />
länger das ideale Objekt der Elektronenmikroskopie<br />
– <strong>und</strong> es wird nicht (viel) länger<br />
genügen, sich nur auf <strong>eine</strong> einzige Methode<br />
der Strukturaufklärung zu stützen. Alle<br />
zusammen bilden das Technik-Arsenal,<br />
mit dem wir in der nahen Zukunft unser<br />
Bild der <strong>Zelle</strong> als f<strong>und</strong>amentaler Organisationseinheit<br />
allen Lebens von Gr<strong>und</strong> auf<br />
neu definieren werden.<br />
Dies beginnt im Kleinsten, wo<br />
bio chemische Fragestellungen letzten<br />
Endes mechanistische sind. Ein chemischer<br />
oder enzymatischer Mechanismus umfasst<br />
die Struktur aller relevanten Reaktionsintermediate<br />
sowie deren jeweiliger Umwandlungsraten<br />
ineinander. Im atomaren<br />
Detail ist die Röntgenbeugung hier sicherlich<br />
konkurrenzlos.<br />
In der nächsten Stufe stellt sich die Frage<br />
nach der Interaktion <strong>und</strong> Dynamik der<br />
Prot<strong>eine</strong> in der <strong>Zelle</strong>. Gerade hier greifen<br />
alle denkbaren Techniken<br />
in fast idealer<br />
Weise ineinander.<br />
Auf der nächstgrößeren<br />
Skala wiederum<br />
ist es die Elektronen-Tomographie,<br />
die uns ein nie dagewesenes<br />
Verständnis der Ultrastruktur<br />
<strong>eine</strong>r <strong>Zelle</strong> ermöglicht.<br />
Die Kristallographie kann in ihren guten<br />
Momenten durchaus auch innerhalb<br />
von St<strong>und</strong>en zur Aufklärung <strong>eine</strong>r Proteinstruktur<br />
führen. Wenn ein Komplex<br />
jedoch aufgr<strong>und</strong> s<strong>eine</strong>r intrinsischen <strong>und</strong><br />
funktionalen Flexibilität nicht kristalli<strong>sie</strong>rt,<br />
ist die Elektronenmikroskopie unschlagbar.<br />
Beide Techniken können wiederum Gr<strong>und</strong>lage<br />
für die Untersuchung der Proteindynamik<br />
durch NMR-Spektroskopie liefern.<br />
Sie verstehen schon: Today, there’s only<br />
one Strukturbiologie. Struktur ist nur ein<br />
„Alles gut also? Fast! Das<br />
Vorhalten aller beschriebenen<br />
Methoden ist ein teurer Spaß.“<br />
Vehikel auf dem Weg zum Verständnis der<br />
Funktion.<br />
Alles gut also? Fast! Das Vorhalten aller<br />
beschriebenen Methoden ist ein teurer<br />
Spaß. Die Preise der Spitzenmodelle von<br />
Cryo-EM <strong>und</strong> NMR-Geräten sind vergleichbar.<br />
Für den Preis <strong>eine</strong>s dieser Instrumente<br />
lassen sich alternativ etwa 50 moderne<br />
Röntgendiffraktometer beschaffen (die<br />
nun wirklich niemand benötigt, das gebe<br />
ich gerne zu). Die Konsequenz ist jedoch<br />
<strong>eine</strong> unvermeidliche Monopoli<strong>sie</strong>rung des<br />
Zugangs zu Instrumenten.<br />
Die Beschaffung<br />
<strong>eine</strong>s hochauflösenden<br />
Elektronenmikroskops<br />
oder <strong>eine</strong>s 1,1 GHz<br />
NMR-Spektrometers<br />
übersteigt die Möglichkeiten der meisten<br />
Universitäten – spätestens wenn die Rechnungen<br />
für Wartungsverträge eintreffen.<br />
In der Proteinkristallographie entspricht<br />
dem am ehesten die Nutzung von Synchrotron-Strahlungsquellen,<br />
also zentralen – in<br />
aller Regel nationalen – Großforschungseinrichtungen,<br />
die mit wohletablierten<br />
Nutzungskonzepten eindeutig Erfolgsmodelle<br />
darstellen. Eine Entwicklung in dieser<br />
Richtung ist für die Elektronenmikroskopie<br />
sicherlich denkbar <strong>und</strong> wünschenswert.<br />
Eine weitere Herausforderung liegt<br />
in der Ausbildung des wissenschaftlichen<br />
Nachwuchses in verschiedenen Techniken<br />
auf höchstem Niveau. Für die besprochenen,<br />
komplexen Methoden ist dies<br />
nicht in gr<strong>und</strong>ständigen Studiengängen zu<br />
leisten, <strong>und</strong> ein M.Sc. Structural Biology<br />
wäre genau nicht das, was die oben propagierte<br />
Fokus<strong>sie</strong>rung auf die biologischen<br />
Fragestellungen unterstützen würde. Wir<br />
benötigen <strong>eine</strong> integrierte Ausbildung auf<br />
dem Niveau von Promovierenden oder Postdocs,<br />
was neue Lehrkonzepte erfordert.<br />
Wahr ist auch, dass die Kombination von<br />
Methoden dort am besten funktioniert, wo<br />
alle an <strong>eine</strong>m Ort verfügbar sind. Für Universitäten<br />
ist dies <strong>eine</strong> echte, strategische<br />
Herausforderung, die nur Fakultäten-übergreifend<br />
<strong>und</strong> mit der vollen Unterstützung<br />
der Universitätsleitung gelingen kann. Die<br />
große Sichtbarkeit der Strukturbiologie<br />
kann, soll <strong>und</strong> wird derartige Strategien<br />
nicht zuletzt zu wichtigen Baust<strong>eine</strong>n kommender<br />
Exzellenzinitiativen machen.<br />
Die hierfür notwendigen Weichenstellungen<br />
müssen genau jetzt geschehen.<br />
Oliver Einsle ist Professor für Biochemie<br />
am Institut für Biochemie der<br />
Universität Freiburg.<br />
Laborjournal<br />
7-8/2016<br />
55