Der Burgbote 2010 (Jahrgang 90)
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<strong>Der</strong> Code des Gesangs<br />
Was für ein Dilemma: <strong>Der</strong> Mailänder<br />
Bischof Ambrosius hatte von seinen Reisen<br />
in die byzantinischen Kirchensprengel die<br />
Idee von gesungenen Chorälen mitgebracht<br />
(<strong>Burgbote</strong> 01/<strong>2010</strong>) und die Musik bereits<br />
in seiner Mailänder Gemeinde eingeführt.<br />
Nach vielen Diskussionen bestand nun<br />
Einigkeit, dass die Stimmführung des Vor<br />
tragenden in gesanglicher Qualität die Ein<br />
maligkeit der frohen Botschaft und auch das<br />
Mysterium des christlichen Glaubens ver<br />
stärkt deutlich machen könne. Aber die<br />
Tonfolgen, die Melodie der Choralgesänge<br />
war natürlich stark von den orientalischen<br />
Hörgewohnheiten der Ursprungsgemein<br />
den im Nahen und Mittleren Osten geprägt.<br />
Und was für die italienischen Ohren viel<br />
leicht noch halbwegs akzeptabel klingen<br />
mag, ist im Norden Frankreichs, in Schott<br />
land oder in Skandinavien nicht mehr als<br />
wohlklingend vermittelbar. Und nun muss<br />
eine Erkenntnis vor allem der Mönchs<br />
bewegungen als epochal bewertet werden:<br />
Die Erkenntnis von der identitätsstiftenden<br />
Kraft des Gesangs.<br />
Die Problematik der katholischen Kirche sei<br />
noch einmal kurz an einem Beispiel ver<br />
deutlicht: Wenn sich heute Angehörige der<br />
jüdischen Kultusgemeinde in New York<br />
zum Gebet versammeln, ist es für sie selbst<br />
verständlich, dass die Melodien der<br />
Gesänge orientalisch anmuten. Die Identi<br />
fikation der Juden wurzelt über lange<br />
Ahnenreihen und Stammbäume immer im<br />
Heiligen Land. Anders bei neu missionier<br />
ten Christen in Schweden oder Wales. Kein<br />
Stammbaum bringt die Bindung an die<br />
neue Glaubenslehre. Die Lebenswelt von<br />
Jerusalem und Nazareth, Spielorten der<br />
neutestamentarischen Überlieferung, ist<br />
unbekannt, die Botschaft der christlichen<br />
Mönche zumindest gewöhnungsbedürftig.<br />
Würde man jetzt auch noch orientalische<br />
Klangwelten mit vielen kleinen Tonschrit<br />
ten und als unmelodisch empfundenen<br />
Harmonien als Ausgangspunkt der gesang<br />
lichen Teile des Gottesdienstes überneh<br />
men, wäre die Einheit der christlichen<br />
Kirche gefährdet. Und hier noch einmal der<br />
Exkurs zum European Song Contest: Selbst<br />
in Pop-Balladen kann unser Ohr sehr<br />
schnell die Herkunftsregion vieler Songs<br />
bestimmen. Und was für heutige Ohren gilt,<br />
galt für die Vorstellungen angemessener<br />
geistlicher Musik auch in der Spätantike<br />
und im anbrechenden Mittelalter in ähnli<br />
cher Weise. Es ist vor allem ein Verdienst der<br />
christlichen Ordensgemeinschaften - Do<br />
minikaner, Benediktiner und Zisterzienser<br />
sind hier besonders zu nennen - dass die<br />
Kraft der Melodie und des gemeinsamen<br />
Gesangs erkannt wurde. Mit der Auswei<br />
tung des Choralgesangs innerhalb der<br />
Klöster und in den Gemeinden entwickelte<br />
der christliche Glaube auch ein ergänzen<br />
des Erkennungsmerkmal. Bis heute sind die<br />
Melodien und Stimmungen der gregoriani<br />
schen Choräle im europäischen Musikge<br />
dächtnis so präsent, dass neu produzierte<br />
Musik-Alben mit gregorianischen Chorälen<br />
Die Kirche San Miguel in der Nähe von Leon. ►<br />
Hier erlebte die selbstbewußte mozarabische<br />
Liturgie Spaniens ihre Glanzzeit.