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Berliner Zeitung 21.09.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 220 · 2 1./22. September 2019 11 *<br />

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Berlin<br />

Massendemonstration der Grauen<br />

Wölfe 1981 in Dortmund. Heute sollen<br />

der Organisation hierzulande mehr<br />

als 18000 Türken angehören.<br />

ULLSTEIN<br />

LEDERHOSEN NICHT NUR<br />

IM BERGHAIN TRAGEN.<br />

Jetzt von Berlin direkt nach München zum Oktoberfest.<br />

Essen im Forsthaus an der Flut in<br />

Briesen –woauch schon die Überläufer<br />

der RAF bewirtet und ausgefragt<br />

wurden – als IMB mit dem<br />

Decknamen „Piero“. Die Kooperation<br />

mit der Stasi zahlte sich für Ü.<br />

auch finanziell aus. Den IM-Akten<br />

zufolge erhielt er bei jedem Treffen<br />

Beträge zwischen 100 und 200<br />

D-Mark inbar.Von Zeit zu Zeit wurden<br />

auch Einzelprämien in Höhe<br />

von500 D-Markbezahlt.<br />

IMB „Piero“ lieferte dem DDR-<br />

Geheimdienst bei den monatlichen<br />

Treffs in den folgenden Jahren eine<br />

Reihe brisanter Informationen aus<br />

dem Inneren der Graue-Wölfe-Organisation.<br />

So berichtete er zum Beispiel<br />

davon, dass in oder bei Ulm –<br />

wo sich die Bayern-Zentrale und das<br />

sogenannte Zentralarchiv der<br />

GrauenWölfe befinde –eine„spezifische<br />

Einsatzgruppe“ gebildet worden<br />

sei. Diese Terrorzelle orientiere<br />

sich am Vorbild der in der Türkei verbotenen<br />

Vergeltungskommandos<br />

mit der Bezeichnung TIT und arbeite<br />

mit streng konspirativen Mitteln. Die<br />

Ulmer TIT bestehe –so„Piero“ –aus<br />

etwa 17 Personen, die wegen ihrer<br />

terroristischen Aktivitäten in der<br />

Heimat gesucht werden.<br />

Darüber hinaus gab er Auskunft<br />

über Neonazis, mit denen die<br />

GrauenWölfe in Kontakt stehen, und<br />

über ihm bekannte Republikaner.<br />

Immer wieder lieferte „Piero“ auch<br />

Videoaufzeichnungen und Fotos,<br />

etwa von Kongressen der Grauen<br />

Wölfe und regionalen Zusammenkünften,<br />

sowie umfangreiche Namenslisten<br />

von Mitgliedern. So<br />

brachte er etwa im Juli 1988 eine Videokassette<br />

vomzentralen Kongress<br />

in Belgien nach Ost-Berlin, auf dem<br />

neben vielen Spitzenleuten der<br />

deutschen und österreichischen<br />

Sektion auch Graue-Wölfe-Anführer<br />

Alparslan Türk auftrat. „Piero“ identifizierte<br />

die Personen auf den Fotos<br />

und gab zu ihnen weitere Hintergrundinformationen.<br />

Das Material<br />

landete dann in der Stasi-Feindobjektakte<br />

über die Grauen Wölfe.<br />

Das von „Piero“ gelieferte Material<br />

wurde auch dazu genutzt, erkannte<br />

Mitglieder der Grauen Wölfe<br />

im Grenzfahndungssystem zu erfassen,<br />

um ihnen gegebenenfalls die<br />

Einreise in die DDR zu verweigern<br />

oder sie bei ihren Besuchen im Osten<br />

zu überwachen. Im Juni 1987 waren<br />

laut einem „Maßnahmeplan zur<br />

Feindobjektakte Graue Wölfe“<br />

232 Mitglieder und Sympathisanten<br />

der Organisation erfasst.<br />

Im Juli 1988 sollte Ü. in den Vorstand<br />

desWest-<strong>Berliner</strong>Vereins ÜGD<br />

der Grauen Wölfe aufgenommen<br />

werden. Dort wäre erals Generalsekretär<br />

für die Organisation von Veranstaltungen<br />

und die sogenannte Sicherungsgruppe<br />

im Verein verantwortlich<br />

gewesen. „Mit der Wahl des<br />

IMB in der Vorstand der ,ÜGD‘ in<br />

West-Berlin ergeben sich für die Perspektive<br />

der politisch-operativen<br />

vorbeugenden Bearbeitung und Aufklärung<br />

(…) der ,Grauen Wölfe‘ bedeutsame<br />

Möglichkeiten“, frohlockte<br />

die Abteilung XXII.<br />

Die Sache zerschlug sich aber,<br />

weil plötzlich der Verdacht gegen Ü.<br />

entstand, ein Stasi-Agent zu sein.<br />

Anfänge: Die rechtsextreme,<br />

türkisch-nationalistische Bewegung<br />

Graue Wölfe existiert<br />

in der Türkei seit den 60er-<br />

Jahren. Unter dem Dach<br />

zahlreicher Vereine und mehrerer<br />

Verbände ist sie bis<br />

heute auch in Deutschland<br />

aktiv.Die Bewegung verstärkt<br />

Spannungen unter<br />

hierzulande lebenden türkischstämmigen<br />

Menschen.<br />

Ihr Symbol, der Graue Wolf,<br />

geht auf einen alttürkischen<br />

Mythos zurück. Er soll die<br />

Stärkeund Aggressivität der<br />

Bewegung symbolisieren.<br />

STÄRKSTE RECHTSEXTREME ORGANISATION<br />

Bedeutung: In Deutschland<br />

werden die Grauen Wölfe<br />

vomVerfassungsschutz beobachtet.<br />

Ein Verbot der Bewegung,die<br />

mit mehr als<br />

18 000 Mitgliedernals<br />

stärkste rechtsextreme Organisation<br />

in Deutschland gilt,<br />

scheitertaber bislang an politischen<br />

Bedenken. Dabei<br />

gehen die Wölfe hierzulande<br />

gewalttätig gegenpolitisch<br />

linkeLandsleute, Armenier<br />

und Kurden vor. Auch Juden,<br />

Griechen sowie der Vatikan<br />

und die USA gehören zu ihren<br />

Feindbildern.<br />

Regimenähe: Die Repression<br />

der Erdogan-Regierung<br />

gegenpolitische Gegner<br />

nach dem gescheiterten<br />

Putsch vomJuli2016hat zu<br />

einer Wiederannäherung der<br />

Grauen Wölfe an das türkische<br />

Regime geführt. So<br />

folgten am 31. Juli 2016 in<br />

Köln Tausende Menschen einem<br />

Demonstrationsaufruf<br />

vonErdogan und anderen<br />

AKP-Politikern, darunter<br />

zahlreiche, an Fahnen und<br />

Symbolen der Bewegung erkennbare<br />

Anhänger der<br />

Grauen Wölfe.<br />

Darüber berichtete eine andereMfS-<br />

Quelle in der türkischen Szene West-<br />

Berlins mit dem Decknamen „Taruk“.<br />

Demnach sei bereits Anfang<br />

1988 ein entsprechender Verdacht<br />

entstanden, als „Piero“ durch „auffällige<br />

Verhaltensweise wie das Dokumentieren<br />

von Veranstaltungen<br />

(…) mit Foto und Videotechnik in<br />

das Blickfeld von Leitungsmitgliedern“<br />

geraten sei. „Durch die Quelle<br />

wirdeingeschätzt, dass der Türke bei<br />

einer Bestätigung der Verdachtsmomente<br />

durch Anhänger der ,Grauen<br />

Wölfe‘ liquidiertwird“, heißt es mahnend<br />

in dem Mitte Februar1989 verfassten<br />

Stasi-Bericht.<br />

PerBrief angeschwärzt<br />

Auch einweiterer Agent mit Decknamen<br />

„Hassan“, den die Abteilung<br />

XXII bei den Grauen Wölfen führte,<br />

wusste Mitte März 1989 von dem<br />

Verdacht gegen Ü. zu berichten. Danach<br />

sei inzwischen sogar ein anonymer<br />

Brief beim Vorstand der Organisation<br />

eingegangen, in dem<br />

„Piero“ angeschwärzt worden sei.<br />

Aufgefallen sei er deshalb,weil einige<br />

der selbstgefertigten Videofilme der<br />

Grauen Wölfe, die von Ü.indie Türkei<br />

verbracht werden sollten, unterwegs<br />

offenbar abhanden gekommen<br />

sind. Der Briefeschreiber vermutete,<br />

dass der junge Türke Filme und Fotografien<br />

über die Grauen Wölfe an<br />

das MfS verkauft, weil er in DDR-<br />

Haft „zum Kommunisten erzogen<br />

worden“ sein soll.<br />

DieStasi reagierte und fing an, die<br />

sogenannten Vortreffs in Ost-Berlin<br />

zu überwachen. Bei einem solchen<br />

Vortreff findet sich ein IM an einem<br />

festgelegten Ort ein und begibt sich<br />

dann auf direktemWegindas konspirativeObjekt,<br />

wo der eigentliche Treff<br />

stattfindet, oder zu einem in der Nähe<br />

gelegenen Punkt, wo er mit dem Führungsoffizier<br />

zusammentrifft, der ihn<br />

dann zum Treffort begleitet. Im Fall<br />

von „Piero“ fand dieser Vortreff in<br />

Berlin-Mitte statt, in der Nähe des<br />

Stadtbads Mitte in der Gartenstraße.<br />

Vondortfuhrder IM mit seinem Führungsoffizier<br />

meist in das bei Briesen<br />

in der Mark gelegene „Objekt 75“. Die<br />

Observationen dieser Vortreffs,die in<br />

den IM-Akten dokumentiertsind, erbrachten<br />

für die Stasi aber keine Auffälligkeiten<br />

–offenbar war Ü. vonseinen<br />

Leuten nicht bis in den Osten<br />

verfolgt worden.<br />

Die Treffs mit dem IMB wurden<br />

fortgesetzt. Der letzte fand am<br />

18. November 1989 statt. Noch einmal<br />

kassierte Ü. Geld vom MfS und<br />

quittierte als „Piero“ den „Empfang<br />

von 300,- DM von dem mir bekannten<br />

Mitarbeiter des Amt(es) für Nationale<br />

Sicherheit“, wie die Stasi inzwischen<br />

hieß. Es ist das letzte Blatt<br />

in der IM-Akte.<br />

Ob Erol Ü. heute noch lebt und<br />

wo, war nicht festzustellen. Versuche,<br />

den heute 58-jährigen Türken<br />

zu finden, um mit ihm über seine damaligen<br />

Kontakte zum MfS zu sprechen,<br />

blieben erfolglos.<br />

Andreas Förster wundert<br />

sich, dass die GrauenWölfe<br />

ungehindertagieren können.

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