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Berliner Zeitung 21.09.2019

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21./22. SEPTEMBER 2019 5<br />

rsee<br />

Franco Giani steuert im Sommer jeden Tagdas Schiff „Segl Maria“<br />

über den türkisblauen Silsersee im Engadin. Es ist die höchstgelegene<br />

Linienschifffahrtslinie Europas<br />

VonFrederik Jötten<br />

schriebenen Ruhetage nimmt er vorallem bei<br />

schlechtem Wetter, wenn die Linie etwa wegen<br />

Gewitterwarnung nicht betrieben wird.<br />

Selten kommt ein zweiter Kapitän aus Italien<br />

zurUnterstützung.<br />

Um 12.10 Uhrläuft die„Segl Maria“ wieder<br />

in Sils ein.„Al mattino –finito“, sagt Gianiund<br />

grinst. Für den Morgen waresdas mit der Arbeit.<br />

Seine Frau Silvana wartet in einem Anbau<br />

des Bootshauses mit dem Mittagessen.<br />

Drinnen steht eine Eckbank, gegenüber ein<br />

Holzofen mit Kochoberfläche, darauf Pfannen<br />

und Töpfe. Esgibt keinen Strom. Der<br />

Röhrenfernseher –auf einem Podest abgestützt<br />

mit einem Besenstiel – funktioniert<br />

nur, wenn ein Diesel-Generator läuft. Giani<br />

zieht eine Daunenweste über, die Wand hinter<br />

ihm ist kalt. Außer dem Holzofen gibt es<br />

keine Wärmequelle und das Bootshaus liegt<br />

vormittags im Schatten.<br />

Bis letztes Jahr haben Franco und Silvana<br />

Giani den Sommer über hiergewohnt. Tochter<br />

und deren Freund Giacomo, wenn sie da<br />

waren, auch. „Es war ... romantisch.“ Franco<br />

Giani lacht. „Als Auszeit vom hektischen Leben<br />

ist es schön“, erzählt Giacomo Rota. In<br />

diesem Jahr habendie Gianis zum ersten Mal<br />

ein kleines Appartement in Maloja gemietet.<br />

„Nach all den Jahren war esZeit für ein bisschen<br />

mehr Komfort“, sagt SilvanaGiani, eine<br />

resolute Frau mit fingerlangen blonden Haaren<br />

im Fleece-Pulli. „Aber am Morgen der<br />

Blick auf die Berge, in der Nachtder Sternenhimmel<br />

– trotz der Entbehrungen war es<br />

schön, hier zu leben.“<br />

Sie stellt Salat und Brot auf den Tisch.<br />

Frage an den Kapitän –wäre esmit 75 nicht<br />

langsam Zeit für den Ruhestand? Er lächelt.<br />

„Ich fühle mich nicht so alt.“Tatsächlich wirkt<br />

er eher jugendlich. Silvana Giani platziert<br />

eine große Platte mit panierten Kalbsschnitzeln<br />

vorihrem Mann.„Erkann sich imWinter<br />

erst einmal ausruhen, im Sommer brauchen<br />

wir ihn am Steuer!“ Alle lachen. DerAnbau, in<br />

dem sie leben, wurde erst 1985 gebaut. Im<br />

Bootshaus nebenan kann man besichtigen,<br />

wie die Bootsführer und später die Familie<br />

Giani vorher gelebt haben: in Holzkabinen,<br />

die oben ins Gebälk gehämmertund nur über<br />

Leiternzuerreichen waren.„Das habe ich nur<br />

durch meine große Liebe zum Capitano mitmachen<br />

können“, sagt Silvana Giani.<br />

Zeit für die nächste Runde über den Silsersee.Eine<br />

Familie steht am Steg. Elternmit riesigen<br />

Sonnenbrillen, ein dreijähriger Sohn mit<br />

blonden Locken, eine circa einjährige Tochter,<br />

die bislang nur Schneidezähne hat. Siehaben<br />

einen sehr großen Kinderwagen dabei. Als<br />

Giacomo Rota ihn einlädt, füllt er den gesamten<br />

Bugaus.Der kleine Junge rennt sofortzum<br />

Kapitän und schaut ihm über die Schulter.<br />

Normalerweise kosten Kinder die Hälfte und<br />

Kinderwagen extra –aber Franco Giani raunt<br />

Giacomo Rota zu: „Ehi Giacomo, non far pagare<br />

ilbambinello.“ Das Kind fährt kostenlos,<br />

der Kinderwagen auch. „Wirklich? Ich kann<br />

gerne ...“ DerVater ist erstaunt.<br />

Giacomo Rota löst die Leinen. Wie schon<br />

Tausende Male zuvor steuert Giani auf den<br />

Seehinaus.Erschiebt dieKapitänsmützemit<br />

dem Zeigefinger aus der Stirn. In Genua habe<br />

er sie vor Jahren gekauft, sagt er. Kam ihm<br />

nicht spätestens dort, an einem der größten<br />

Häfen Europas, der Gedanke, ein Schiff auf<br />

hoher See zunavigieren? Hatte er nie Sehnsucht<br />

nach den Ozeanen? Giani schüttelt<br />

energisch den Kopf. „Das Meer ist langweilig,<br />

dortsehe ich nur den Horizont“, sagt er.„Hier<br />

dagegen habe ich all das.“ Er zeigt im Halbkreis<br />

um sich herum. Das türkis schimmernde<br />

Wasser, die sich sanft im Wind wiegenden<br />

Lärchenwälder am Ufer,dahinter die<br />

steilen und schroffen Felsen der Lagrev-<br />

Gruppe, deren Gipfel noch schneebedeckt<br />

sind. Gegenüber eine saftig-grüne Wiese.<br />

Zwischen gurgelnden Bächen weiden Kühe.<br />

Die letzte Fahrt des Tages macht Ehefrau<br />

Silvana Giani mit. „Ich mag die Landschaft,<br />

besonders im Nachmittagslicht“, sagt sie.<br />

„Der Seehat je nach Sonnenstand undWetter<br />

unterschiedliche Farben –esgibt hier immer<br />

was zu entdecken.“ Sie zeigt auf eine Bank,<br />

die versteckt zwischen Bäumen am Ufer<br />

steht. „Die habe ich noch nie gesehen.“ Morgens<br />

habe sie keine Zeit mitzufahren.„Ich<br />

muss kochen –der Capitano hat immer viel<br />

Hunger.“ Siesagt das mit einem liebevoll ironischen<br />

Tonfall. Dann, es sind noch zehn Minuten<br />

bis zur nächsten Abfahrt zurück in<br />

Richtung Sils, schlendert Giani am Ufer entlang.<br />

Ein Kapitän, der in sich gekehrt über<br />

den Sinn des Lebens nachdenkt, könnte man<br />

meinen. Doch Giani steuert die Motorräder<br />

an, die am Ufer parken, eine Gruppe BMW-<br />

Maschinen, anerkennend nickend umkreist<br />

er sie.„Ichhabeeine Enduro“, sagt er.<br />

Zurück an Bord zeigt er auf seinem Handy<br />

ein Foto eines feuerroten Fiat Cinquecento<br />

mit Spoilern: „Mein Zweitwagen.“ Er grinst<br />

schelmisch. „Die Version mit dem stärksten<br />

Motor“, sagt Giacomo Rota. „Als er einmal damit<br />

hier war,hat man das Röhren des Auspuffs<br />

im ganzen Talgehört.“ Francos Frau verdreht<br />

die Augen und blickt gen Himmel als erbitte<br />

sie sich dortBeistand.„Erist darauf so stolz wie<br />

ein 20-Jähriger.“ Der Kapitän zuckt entschuldigend<br />

die Achseln und grinst immer noch.<br />

Die Abfahrtszeit in Maloja rückt näher.<br />

Einzige Passagiere: die Familie mit dem großen<br />

Kinderwagen und den beiden kleinen<br />

Kinderngeht wieder an Bord.Freudiges Wiedersehen,<br />

Eltern und Kinder strahlen. Die<br />

„Segl Maria“ tuckert über den See. Nach 15<br />

Minuten hält Franco Giani Kurs auf den Anleger<br />

vonPlaun da Lej.Kein Mensch steht dort,<br />

er fährt amSteg vorbei und nimmt bereits<br />

Kurs auf Sils. Der Familienvater springt auf,<br />

Seit 50 Jahren Kapitän der „Segl Maria“ auf dem<br />

Silsersee: Franco Giani.<br />

FREDERIK JÖTTEN<br />

ruft: „Hallo, wir müssen hier raus!“ In seinem<br />

Gesicht eine Mischung aus Fassungslosigkeit<br />

und Belustigung. „Oh, verdammt“, ruft Giacomo<br />

Rota. „Ich habe vergessen, dem Kapitän<br />

zu sagen, dass Sie hier raus wollten.“ Franco<br />

Giani lächelt und dreht das Boot wieder in<br />

Richtung Plaun da Lej. Beim Ausstieg ist der<br />

Abschied herzlich, der Familienvater macht<br />

den Eindruck, als habe er gerade ein Abenteuer<br />

erlebt, von dem er noch lange erzählen<br />

werde. Die Lässigkeit der italienischen Crew<br />

beeindruckt.„Alles Gute –und noch weitere50<br />

Jahreals Kapitän!“, ruft er.Gelächter.„25 würden<br />

mir reichen“, antwortet Silvana Giani.<br />

Aufder letzten Etappe nach Sils ist die Familie<br />

alleine auf dem Boot. Der Kapitän, der<br />

seinem Nachfolger in spe immer versucht,<br />

etwas beizubringen, zeigt Giacomo Rota die<br />

Tankanzeige –sie zeigt jetzt einen größeren<br />

Füllzustand an als beim letzten Stopp. „Weil<br />

das Boot eben nicht gerade im Wasser gelegen<br />

hat“, erklärter. DenDiesel für die Boots-<br />

Motoren kauft Giani bei der Tankstelle. „Wir<br />

würden gerne auf Elektromotoren umsteigen“,<br />

sagt Giacomo Rota. „Allerdings gibt es<br />

am Bootshaus bislang keinen Strom.“<br />

Der Heimathafen in Sils liegt nun nicht<br />

mehr im Schatten. Franco Giani fährtdie„Segl<br />

Maria“ zum Steg, das Nachmittagslicht färbt<br />

sie golden. Silvana, Giacomo Rota und Franco<br />

Giani vertauen das Boot, dann ziehen sie Planen<br />

über Heck undBug. DieWettervorhersage<br />

ist gut. Kapitän Franco Giani wird das Kursschiff<br />

morgen wieder raus aufden Seesteuern.<br />

Frederik Jötten ist auch schon mit dem<br />

Kajak über den Silsersee gepaddelt –<br />

ohne Motorbrummen um so schöner.

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