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urbanLab Magazin 2017 - Die Stadt der Zukunft

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Soziale <strong>Stadt</strong> - KEYNOTE<br />

o<strong>der</strong> diese an<strong>der</strong>en Faktoren müssen mit den zuerst<br />

genannten in irgendeiner Weise zusammengewirkt<br />

haben.<br />

Vor dem Hintergrund eigener Forschungen in urbanen<br />

Räumen <strong>der</strong> deutschen Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft<br />

(vgl. Hüttermann 2006; 2010) und auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage internationaler Forschungen (vgl.<br />

Horowitz 2001, Varshney) nimmt die mo<strong>der</strong>ne Konfliktforschung<br />

an, dass mehrere Strukturen, Prozesse<br />

und Ereignisse zusammenspielen müssen, um die<br />

Genese urbaner Intergruppenkonflikte zu erklären.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn das Zusammenspiel solcher<br />

Faktoren lokalen Verschwörungstheorien bzw.<br />

Gerüchten über einen bevorstehenden Übergriff <strong>der</strong><br />

Gegenseite Nahrung gibt, verstärken sich stadtgesellschaftliche<br />

Konfliktpotenziale.<br />

Ein an<strong>der</strong>er Verstärkermechanismus greift dann, wenn<br />

Segregationsprozesse soziale Gruppen nicht nur auf<br />

einem einzigen Feld – etwa dem Wohnungsmarkt –<br />

voneinan<strong>der</strong> scheiden, son<strong>der</strong>n die gleichen Gruppen<br />

zur gleichen Zeit auch auf an<strong>der</strong>en lokalen Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

<strong>Stadt</strong>gesellschaft einan<strong>der</strong> gegenüberstehen. Wenn<br />

also homologe Segregationsprozesse neben dem<br />

Wohnungsmarkt zusätzlich auch im lokalen Schulsystem,<br />

im Freizeitbereich, auf dem örtlichen Heirats- und<br />

Flirtmärkten, in <strong>der</strong> organisierten Kriminalität, im lokalen<br />

Konsum und in <strong>der</strong> Lokalpolitik wirken und dadurch<br />

in vielen Bereichen des stadtgesellschaftlichen<br />

Intergruppenlebens homologe Gruppenkonstellationen<br />

entstehen, dann können Konfliktereignisse auf einem<br />

Interaktionsfeld schnell auch auf an<strong>der</strong>e Interaktionsfel<strong>der</strong><br />

übergreifen. Weil sich auf allen diesen Fel<strong>der</strong>n<br />

gleichförmige segregationsbedingte Intergruppenkonstellationen<br />

herausgebildet haben, können sich schon<br />

aus relativ geringem Anlass und ohne großen Mobilisierungsaufwand<br />

Fronten ausbilden die wie<strong>der</strong>um weitere<br />

Konfliktereignisse provozieren.<br />

Auch das schiere Tempo des lokalen sozialen Wandels<br />

mag eine Rolle für die Genese urbaner Intergruppenkonflikte<br />

spielen: Verän<strong>der</strong>n sich in einer <strong>Stadt</strong>gesellschaft<br />

durch Abstiegs– und Aufstiegsbewegungen<br />

sozialer Gruppen (im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en sozialen<br />

Gruppen) schnell (etwa innerhalb einer Generation) die<br />

Hierarchien, so ist <strong>der</strong> Wechsel <strong>der</strong> Machtdifferenziale<br />

zwischen sozialen Gruppen unmittelbarer erlebbar, als<br />

in einer größeren, mehrere Generationen umfassenden<br />

Zeitspanne. <strong>Die</strong> Enttäuschungen auf <strong>der</strong> einen und die<br />

Überlegenheitsgefühle auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite speisen<br />

sich dann gewissermaßen aus relativ frischen Erfahrungen.<br />

Dahingegen bietet ein allmählicher sozialer Wandel<br />

im Verhältnis <strong>der</strong> Intergruppenbeziehungen und<br />

-hierarchien die Gelegenheit für Gewöhnungseffekte<br />

und das Abklingen von Emotionen, aus denen Konflikteskalationen<br />

schöpfen.<br />

Desweiteren spielt zumindest im Län<strong>der</strong>vergleich<br />

(z.B. Deutschland-Frankreich) <strong>der</strong> Bildungserfolg von<br />

Migrantengruppen eine gewisse Rolle. Denn je höher<br />

Zuwan<strong>der</strong>er und ihre Nachfahren gebildet sind, desto<br />

höher sind ihre Erwartungen mit Blick auf den eigenen<br />

beruflichen Erfolg. Weil etwa die relativ hohen<br />

Erwartungen <strong>der</strong> – im Vergleich zu Türkeistämmigen<br />

<strong>Stadt</strong>bewohnern Deutschlands – relativ gut ausgebildeten<br />

maghrebinischen Jugendlichen in Frankreich<br />

nicht erfüllt werden, kann dies immer wie<strong>der</strong> gewaltsame<br />

Protestbewegungen o<strong>der</strong> Angriffe gegen urbane<br />

Sündenböcke (z. B. französische Juden) o<strong>der</strong> Symbole<br />

generieren (vgl. Dubet 2002: 1180).<br />

Neben den genannten kommen noch viele an<strong>der</strong>e Faktoren<br />

(Strukturen, Prozesse, Ereignisse) hinzu, die in Interaktion<br />

mit wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Faktoren urbane Konflikteskalationen<br />

erklären können. So unterscheiden sich<br />

<strong>Stadt</strong>gesellschaften nach Maßgabe ihrer historisch gewachsenen<br />

Konfliktkultur bzw. Konfliktvermeidungskultur<br />

(vgl. Hüttermann 2010). Gerade <strong>Stadt</strong>gesellschaften,<br />

welche die Austragung von Intergruppenkonflikten<br />

angesichts eines im kollektiven lokalen Gedächtnisses<br />

stark ausgeprägten Harmonieideals verdrängen, müssen<br />

mit Konflikteskalationen rechnen, weil sie Präventions-<br />

und Mediationspotenziale übersehen und<br />

unausgeschöpft lassen. Ferner macht es einen großen<br />

Unterschied ob Alteingesessene und Migranten(-nachfahren)<br />

kollektive Verletzungen und Vorurteile kultivieren,<br />

die dem Kontext des Kolonialismus bzw. <strong>der</strong> Dekolonialisierung<br />

entstammen. Während Maghrebiner<br />

in Frankreich und Pakistanstämmige in Großbritannien<br />

solche historischen Ressentiments <strong>der</strong> Kolonialzeit in<br />

vielen Intergruppenkonflikten mit Alteingesessenen<br />

zur Sprache bringen, findet man hierzulande bei Türkeistämmigen<br />

keine Entsprechung. Weiterhin sind so<br />

genannte entzündungsfähige Ereignisse anzusprechen.<br />

So kann ein einziger dramatischer Vorfall (z. B.<br />

ein Gewaltereignis, Mord, Vergewaltigung etc.) auch<br />

vergleichsweise mo<strong>der</strong>ate Intergruppenspannungen<br />

eskalieren lassen. Auch unterschiedliche lokal und sozialräumlich<br />

ausgeprägte Polizeistrategien und -kulturen<br />

sind ebenfalls als potenzielle Konfliktfaktoren zu<br />

betrachten. In vielen Städten <strong>der</strong> USA und Frankreichs<br />

fungieren denn auch Vorfälle im Wirkungskreis <strong>der</strong> Polizei<br />

gewissermaßen als Zündfunke für die oben angesprochene<br />

sogenannte Mass Racial Violence. Und im<br />

Zeitalter <strong>der</strong> Globalisierung wirken schließlich auch globale<br />

Ereignisse auf den je beson<strong>der</strong>en lokalen Kontext<br />

in je beson<strong>der</strong>er, lokal gefilterter Weise auf städtische<br />

Konfliktkonstellationen ein (vgl. Hüttermann 2010).<br />

Entwarnung?<br />

<strong>Die</strong> Furcht vor segregationsbedingter Konflikteskalation<br />

ist nicht nur aufgrund <strong>der</strong> grundsätzlichen Erkenntnisse<br />

über den Zusammenhang von Segregation<br />

und Konfliktgenese unbegründet. Sie erscheint auch<br />

deshalb abwegig, weil die migrationsbezogenen Siedlungsstrukturen<br />

in Deutschland ein weitaus geringeres<br />

Ausmaß an räumlicher Konzentration aufweisen als<br />

vergleichbare Siedlungsstrukturen in den USA aber<br />

auch als in Großbritannien, in Frankreich und selbst<br />

noch in den Nie<strong>der</strong>landen (vgl. Schönwäl<strong>der</strong>/Söhn<br />

2009). Bedenkt man, dass Wissenschaftler*innen in<br />

den USA und in Kanada erst dann von „ethnic neighborhoods“<br />

sprechen, wenn eine ethnische Gruppe etwa<br />

30 bis 40% <strong>der</strong> Einwohner eines Viertels ausmacht,

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