urbanLab Magazin 2017 - Die Stadt der Zukunft
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
38<br />
Soziale <strong>Stadt</strong> - KEYNOTE<br />
o<strong>der</strong> diese an<strong>der</strong>en Faktoren müssen mit den zuerst<br />
genannten in irgendeiner Weise zusammengewirkt<br />
haben.<br />
Vor dem Hintergrund eigener Forschungen in urbanen<br />
Räumen <strong>der</strong> deutschen Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft<br />
(vgl. Hüttermann 2006; 2010) und auf<br />
<strong>der</strong> Grundlage internationaler Forschungen (vgl.<br />
Horowitz 2001, Varshney) nimmt die mo<strong>der</strong>ne Konfliktforschung<br />
an, dass mehrere Strukturen, Prozesse<br />
und Ereignisse zusammenspielen müssen, um die<br />
Genese urbaner Intergruppenkonflikte zu erklären.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn das Zusammenspiel solcher<br />
Faktoren lokalen Verschwörungstheorien bzw.<br />
Gerüchten über einen bevorstehenden Übergriff <strong>der</strong><br />
Gegenseite Nahrung gibt, verstärken sich stadtgesellschaftliche<br />
Konfliktpotenziale.<br />
Ein an<strong>der</strong>er Verstärkermechanismus greift dann, wenn<br />
Segregationsprozesse soziale Gruppen nicht nur auf<br />
einem einzigen Feld – etwa dem Wohnungsmarkt –<br />
voneinan<strong>der</strong> scheiden, son<strong>der</strong>n die gleichen Gruppen<br />
zur gleichen Zeit auch auf an<strong>der</strong>en lokalen Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
<strong>Stadt</strong>gesellschaft einan<strong>der</strong> gegenüberstehen. Wenn<br />
also homologe Segregationsprozesse neben dem<br />
Wohnungsmarkt zusätzlich auch im lokalen Schulsystem,<br />
im Freizeitbereich, auf dem örtlichen Heirats- und<br />
Flirtmärkten, in <strong>der</strong> organisierten Kriminalität, im lokalen<br />
Konsum und in <strong>der</strong> Lokalpolitik wirken und dadurch<br />
in vielen Bereichen des stadtgesellschaftlichen<br />
Intergruppenlebens homologe Gruppenkonstellationen<br />
entstehen, dann können Konfliktereignisse auf einem<br />
Interaktionsfeld schnell auch auf an<strong>der</strong>e Interaktionsfel<strong>der</strong><br />
übergreifen. Weil sich auf allen diesen Fel<strong>der</strong>n<br />
gleichförmige segregationsbedingte Intergruppenkonstellationen<br />
herausgebildet haben, können sich schon<br />
aus relativ geringem Anlass und ohne großen Mobilisierungsaufwand<br />
Fronten ausbilden die wie<strong>der</strong>um weitere<br />
Konfliktereignisse provozieren.<br />
Auch das schiere Tempo des lokalen sozialen Wandels<br />
mag eine Rolle für die Genese urbaner Intergruppenkonflikte<br />
spielen: Verän<strong>der</strong>n sich in einer <strong>Stadt</strong>gesellschaft<br />
durch Abstiegs– und Aufstiegsbewegungen<br />
sozialer Gruppen (im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en sozialen<br />
Gruppen) schnell (etwa innerhalb einer Generation) die<br />
Hierarchien, so ist <strong>der</strong> Wechsel <strong>der</strong> Machtdifferenziale<br />
zwischen sozialen Gruppen unmittelbarer erlebbar, als<br />
in einer größeren, mehrere Generationen umfassenden<br />
Zeitspanne. <strong>Die</strong> Enttäuschungen auf <strong>der</strong> einen und die<br />
Überlegenheitsgefühle auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite speisen<br />
sich dann gewissermaßen aus relativ frischen Erfahrungen.<br />
Dahingegen bietet ein allmählicher sozialer Wandel<br />
im Verhältnis <strong>der</strong> Intergruppenbeziehungen und<br />
-hierarchien die Gelegenheit für Gewöhnungseffekte<br />
und das Abklingen von Emotionen, aus denen Konflikteskalationen<br />
schöpfen.<br />
Desweiteren spielt zumindest im Län<strong>der</strong>vergleich<br />
(z.B. Deutschland-Frankreich) <strong>der</strong> Bildungserfolg von<br />
Migrantengruppen eine gewisse Rolle. Denn je höher<br />
Zuwan<strong>der</strong>er und ihre Nachfahren gebildet sind, desto<br />
höher sind ihre Erwartungen mit Blick auf den eigenen<br />
beruflichen Erfolg. Weil etwa die relativ hohen<br />
Erwartungen <strong>der</strong> – im Vergleich zu Türkeistämmigen<br />
<strong>Stadt</strong>bewohnern Deutschlands – relativ gut ausgebildeten<br />
maghrebinischen Jugendlichen in Frankreich<br />
nicht erfüllt werden, kann dies immer wie<strong>der</strong> gewaltsame<br />
Protestbewegungen o<strong>der</strong> Angriffe gegen urbane<br />
Sündenböcke (z. B. französische Juden) o<strong>der</strong> Symbole<br />
generieren (vgl. Dubet 2002: 1180).<br />
Neben den genannten kommen noch viele an<strong>der</strong>e Faktoren<br />
(Strukturen, Prozesse, Ereignisse) hinzu, die in Interaktion<br />
mit wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Faktoren urbane Konflikteskalationen<br />
erklären können. So unterscheiden sich<br />
<strong>Stadt</strong>gesellschaften nach Maßgabe ihrer historisch gewachsenen<br />
Konfliktkultur bzw. Konfliktvermeidungskultur<br />
(vgl. Hüttermann 2010). Gerade <strong>Stadt</strong>gesellschaften,<br />
welche die Austragung von Intergruppenkonflikten<br />
angesichts eines im kollektiven lokalen Gedächtnisses<br />
stark ausgeprägten Harmonieideals verdrängen, müssen<br />
mit Konflikteskalationen rechnen, weil sie Präventions-<br />
und Mediationspotenziale übersehen und<br />
unausgeschöpft lassen. Ferner macht es einen großen<br />
Unterschied ob Alteingesessene und Migranten(-nachfahren)<br />
kollektive Verletzungen und Vorurteile kultivieren,<br />
die dem Kontext des Kolonialismus bzw. <strong>der</strong> Dekolonialisierung<br />
entstammen. Während Maghrebiner<br />
in Frankreich und Pakistanstämmige in Großbritannien<br />
solche historischen Ressentiments <strong>der</strong> Kolonialzeit in<br />
vielen Intergruppenkonflikten mit Alteingesessenen<br />
zur Sprache bringen, findet man hierzulande bei Türkeistämmigen<br />
keine Entsprechung. Weiterhin sind so<br />
genannte entzündungsfähige Ereignisse anzusprechen.<br />
So kann ein einziger dramatischer Vorfall (z. B.<br />
ein Gewaltereignis, Mord, Vergewaltigung etc.) auch<br />
vergleichsweise mo<strong>der</strong>ate Intergruppenspannungen<br />
eskalieren lassen. Auch unterschiedliche lokal und sozialräumlich<br />
ausgeprägte Polizeistrategien und -kulturen<br />
sind ebenfalls als potenzielle Konfliktfaktoren zu<br />
betrachten. In vielen Städten <strong>der</strong> USA und Frankreichs<br />
fungieren denn auch Vorfälle im Wirkungskreis <strong>der</strong> Polizei<br />
gewissermaßen als Zündfunke für die oben angesprochene<br />
sogenannte Mass Racial Violence. Und im<br />
Zeitalter <strong>der</strong> Globalisierung wirken schließlich auch globale<br />
Ereignisse auf den je beson<strong>der</strong>en lokalen Kontext<br />
in je beson<strong>der</strong>er, lokal gefilterter Weise auf städtische<br />
Konfliktkonstellationen ein (vgl. Hüttermann 2010).<br />
Entwarnung?<br />
<strong>Die</strong> Furcht vor segregationsbedingter Konflikteskalation<br />
ist nicht nur aufgrund <strong>der</strong> grundsätzlichen Erkenntnisse<br />
über den Zusammenhang von Segregation<br />
und Konfliktgenese unbegründet. Sie erscheint auch<br />
deshalb abwegig, weil die migrationsbezogenen Siedlungsstrukturen<br />
in Deutschland ein weitaus geringeres<br />
Ausmaß an räumlicher Konzentration aufweisen als<br />
vergleichbare Siedlungsstrukturen in den USA aber<br />
auch als in Großbritannien, in Frankreich und selbst<br />
noch in den Nie<strong>der</strong>landen (vgl. Schönwäl<strong>der</strong>/Söhn<br />
2009). Bedenkt man, dass Wissenschaftler*innen in<br />
den USA und in Kanada erst dann von „ethnic neighborhoods“<br />
sprechen, wenn eine ethnische Gruppe etwa<br />
30 bis 40% <strong>der</strong> Einwohner eines Viertels ausmacht,