Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Gesellschaft
Gesellschaft
Wie wollen wir leben?
Wohnen und mehr
Wohnanlage des „Gemeinnützigen Wohnungsverein zu Bochum eG“
Die Verfügbarkeit von Wohnraum ist ein menschliches
Grundbedürfnis und ein wichtiger Gradmesser
für das Wohl- oder auch Unwohlbefinden eines
jeden. In Deutschland wohnt ca. die Hälfte der Einwohner
zur Miete und ist somit angewiesen auf das Angebot, das
der Markt parat hält.
Meine Mutter nennt es einen absoluten Glücksfall. Sie
fühlt sich in ihrer neuen Mietswohnung rundum wohl.
Wohnen ist plötzlich „mehr“ geworden, hat einen Zugewinn
an Lebensqualität bewirkt und ich spüre die Zufriedenheit
bei jeder Begegnung, jedem Telefonat mit ihr. Was
begründet diese neue Mieterfahrung und inwiefern ist sie
nun so anders? Ich beginne nachzufragen.
Der Block mit den erfreulich niedriggeschossigen Wohnhäusern,
umrahmt von Straßenbäumen und Grünstreifen
vorne sowie gepflegten Rasenflächen und Büschen hinten,
gehört dem „Gemeinnützigen Wohnungsverein zu Bochum
eG“, kurz GWV, einer Wohngenossenschaft. Mir ist sofort
klar, dass es das „G“ ist, das den Unterschied ausmacht,
auch deshalb, weil es nicht nur den Firmennamen schmückt,
sondern zum ausgeprägten Selbstverständnis des Vereins
gehört – der Gemeinschaft nutzen, ihr wohl tun.
Ich bekomme eine Ausgabe des letzten, sehr informativen
Mitgliedermagazins in die Hände und lese im Editorial
… denn unsere Genossenschaft besteht ja nicht in erster
Linie aus Häusern, Wohnungen und Steinen, sondern auch
aus dem Zusammenleben unserer Mitglieder. Eigentlich
eine Selbstverständlichkeit, die hier formuliert wird, doch
in einer Zeit, in der börsennotierte Wohnungsgesellschaften
hauptsächlich die Profitmehrung pro Quadratmeter im
Blick haben, markiert der Wohnungsverein mit seinem
Fokus auf die Menschen und ihr Miteinander eine völlig
gegensätzliche Ausrichtung.
Mir wird der Kontrast zu der sich allmählich durchsetzenden
Struktur des Wohnungsmarktes in Deutschland
plötzlich sehr deutlich. Durch den eklatanten Fehler der Privatisierung
ehemals kommunalen Wohnraums ist der Wohnungsmarkt
inzwischen zum begehrten Tummelplatz für Investoren
geworden. So konnten sich, neben vielen privaten
Vermietern mit sozialer Vernunft, Immobilien-Giganten wie
die Vonovia oder die Deutsche Wohnen herausbilden. Letztere
bewegt ein Grundkapital von ca. 356 Mio. Euro – u.a.
auch das von der amerikanischen Firma BlackRock – und
hat nun, wie bereits die Vonovia, den Aufstieg in die oberste
Börsenliga, den DAX, geschafft.
Die Mieter der Deutsche Wohnen gehen derweil in Berlin
auf die Straße und demonstrieren gegen ungerechtfertigte
Mieterhöhungen, zu hohe Nebenkosten sowie absichtlich
herbeigeführte Entmietung, um die „Normalmieter“ durch
finanziell besser gestellte Mieter zu ersetzen. Der DAX-
Aufstieg, so befürchten sie, wird das Unternehmen noch
stärker in den Fokus internationaler Investoren rücken mit
der Erwartung möglichst hoher Dividenden.
Diese Paradigmen der sogenannten freien Märkte mit ihrem
Leitstern der Kapitalvermehrung tangieren meine Mutter
in ihrer genossenschaftlichen Wohnsituation zum Glück gar
nicht. Sie hat die Sicherheit eines lebenslangen Wohnrechts
verbunden mit einem sozial verträglichen Mietpreis. Durch
den Ankauf von zwei Pflichtanteilen zu je 400 Euro ist sie
Teil der Genossenschaft und rein rechtlich anteilige Miteignerin,
indirekt auch der Wohnung, in der sie lebt. Demzufolge
hat sie bei Einzug auch keinen Mietvertrag, sondern einen
Nutzungsvertrag unterschrieben. Sie kann davon ausgehen,
dass finanzielle Überschüsse, die der Verein erwirtschaftet, in
den Erhalt, die Modernisierung, Neuerwerbungen oder den
Ausbau des Serviceangebots investiert werden.
Somit kommt jedes ökonomische Plus jedem Mieter,
auch ihr, zu Gute. Und wenn ihr, rund ums Wohnen, etwas
gar nicht gefallen sollte oder sie eine gute Idee hat, so hat
sie durch ihr Mitbestimmungsrecht die Möglichkeit, Einfluss
zu nehmen – zumindest indirekt. Die Genossenschaft
ist nämlich strukturell demokratisch aufgebaut. Die Mitglieder
wählen Interessensvertreter aus ihrem Wohnblock. Diese
Vertreter wählen den Aufsichtsrat und dieser stellt den
Vorstand. In den Schaukästen der Mietshäuser sowie der
Mitgliederzeitschrift erfahren die Mieter mehr über diese
Gremien und ihre Ziele.
„Hier gibt es so viele Möglichkeiten“, sagt meine Mutter
und ich höre gut zu. Zweimal im Monat sind die Mieter in
die GWV-Gemeinschaftsräume eingeladen, um bei Kaffee
und Kuchen oder gemeinsamen Spielen miteinander ins
Gespräch zu kommen. Weitere Projekte für alle Generationen
unter dem Motto „Begegnung – Austausch – Vernetzung“
sind geplant, darunter ein Eltern-Kind-Café und ein
Programm „Fit und mobil im Alter“. Das Miteinander wird
großgeschrieben. Wir möchten, dass Genossenschaft durch
Gemeinschaft, z.B. durch gemeinsame Aktivitäten, noch erfahrbarer
wird, heißt es in der Mitgliederzeitschrift. Nach
kurzer Zeit bereits kennt und begrüßt meine Mutter etliche
Nachbarn aus der Straße. Kein Platz für Vereinsamung.
Zusätzlich werden gemeinsame Tagesfahrten angeboten,
es wird in neue Spielplätze investiert, Boxen für Fahrräder,
Rollatoren und Scooter können angemietet werden, es gibt einen
Haustechnik-Notdienst und nun auch noch einen Getränke-Lieferservice
durch vertraute Teams bis in die Wohnung.
Und auch in Corona-Zeiten, in denen die direkten Begeg-
nungsmöglichkeiten bekanntlich eingeschränkt sind, werden
Nachbarschaftsgeist und tatkräftiges Engagement gezeigt.
Es mag sein, dass dieser Wohnungsverein in Bochum
im Vergleich zu anderen seine Ziele besonders konsequent
und effektiv verfolgt. Auf jeden Fall ist das Modell
des genossenschaftlichen Wohnens als solches tatsächlich
ein „Glücksfall“, da hier Geld und der Wohnungsmarkt den
Menschen dienen statt umgekehrt. Bärbel Raabe
MitweltZukunft
Ein Wirtschaften, das auf das Gemeinwohl, auf Gerechtigkeit
und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist – das sind Ziele, die sich
der Arbeitskreis MitweltZukunft u.a. gesetzt hat.
Entstanden ist dieser Arbeitskreis aus zwei Veranstaltungen
der Universität Siegen, der Mittwochsakademie und des „Forum
Siegen“ unter der Leitung von Prof. Dr. Gustav Bergmann
und Dr. Anne-Katrin Schwab im Zusammenhang mit dem
Masterstudiengang „Plurale Ökonomik“. Die Seminarteilnehmer
begeisterten sich für die Perspektiven einer lebensdienlichen
Wirtschaft und arbeiten seit dem Ende des Seminars
weiter daran. Daraus ergibt sich auch die Beschäftigung mit
bereits existierenden solidarischen, demokratischen und ökologischen
Alternativen und Initiativen. Die im Text beschriebene
subjektive Erfahrung einer der Teilnehmerinne verweist auf
eine solche.
52 durchblick 3/2020 3/2020 durchblick 53