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Unterhaltung

Die blaue Tonne

Foto: Pixabay

Was ist gefährlich?

Kinder balancieren auf Trümmerwänden, spielen mit

scharfkantigen Granatsplittern und streunen in der

Gegend herum, um Erfahrungen aller Art zu sammeln

– Hauptsache, sie sind mit dem Glockenläuten wieder

zu Hause. War das gefährlich? Ihre Eltern haben sich in den

40er Jahren keine Sorgen gemacht. Der Krieg war vorbei, das

war der wesentliche Sicherheitsgewinn. Jetzt konnte es nur

noch bergauf gehen.

Als ich in den 70er Jahren Kind war, sind wir samstags mit

den Nachbarskindern in den Wald gezogen zum Budenbau.

Dafür bedienten wir uns in den Werkzeugkammern der Väter

an allem, was wir dafür gebrauchen konnten. „Stör die Kinder

nicht beim Spielen!“, raunte man sich unter Erwachsenen zu.

Wir hätten uns in die Finger sägen können und mit dem Hammer

auf den Daumen hauen. Hätte man uns besser beschützen

sollen? Unseren Eltern war die freie Entwicklung ihrer

Kinder wichtig, dass sie sich ausprobieren konnten. Erfahrungen

müssen gemacht werden, um verstanden zu werden,

aus Schaden wird man klug. Wem mal eine Kinderlaterne abgebrannt

ist, der passt künftig besser auf mit Feuer, und wer

vor dem Indianerzelt frühzeitig „Friedenspfeife“ geraucht hat,

lässt mit höherer Wahrscheinlichkeit später die Finger von

Tabakwaren aller Art. Was als „Gefahr“ betrachtet wird, ist

vom Zeitgeist geprägt und wandelt sich auch im Laufe der

eigenen Entwicklung. Früher fuhr man ohne Helm Motorrad,

ohne Sicherheitsgurt und Airbag Auto, und die Kinder schliefen,

wenn es spät geworden ist, im Kofferraum. Heute trägt

man schon auf dem Fahrrad Helm, und die Kinder sind im

Sicherheitssitz fixiert. Abgesehen von der gesetzlichen Lage

käme einem alles andere halsbrecherisch vor.

Unser Leben ist dank Arbeitsschutz und Risikomanagement

sicherer geworden. Trotzdem steigt die individuelle

Angst vor Gefahr. Hinter jedem Kind läuft ein helikopternder

Elternteil hinterher. Es gibt die stumpfe Kinderschere,

das abgerundete Kindermesser und die gepolsterte Kinderecke.

„Muss erst was passieren?“, fragen wir sorgenvoll,

während wir den Kindern zum Rollschuhfahren Protektoren

aller Art anlegen. Das typische „Kinderknie“, meist dick

verschorft, begegnet einem seltener als früher.

Die Sorge vor möglichen Bedrohungen steckt an: Trauen

sich andere im Dunkeln nicht mehr in den Wald, kommt das

auch mir gefährlicher vor. Kann man sich als Fahrradfahrer

überhaupt noch auf die Straße trauen? Immer wieder hört

man von den schweren Unfällen, zu denen es kommt, weil

wieder ein Radler übersehen wurde.

Ein Aspekt des Gefahr-Empfindens ist sicher die gute

Informationslage heute. In Zeiten der Pandemie kann ich

täglich aktualisierte Zahlen lesen, wie viele Neuinfektionen

es in Südkorea gab und wie viele Menschen in Brasilien an

Covid 19 gestorben sind. „Empathische Angst“ kann mich

da leicht beschleichen: Wechsel ich den Gang im Supermarkt,

wenn mir jemand ohne Mund-Nasenschutz entgegenkommt?

Und sage ich den Besuch bei Freunden lieber

ab? Es gibt den „Typ Mallorca“, der vor Massenpartys auch

in der Pandemie nicht zurückschreckt und den „Typ Einsiedler“,

der lieber jeglichen Menschenkontakt vermeidet.

Doch „nur wer wagt, gewinnt“: Um im Leben weiterzukommen,

muss man immer wieder den Schritt in die Unsicherheit

wagen. Alle Heldengeschichten handeln von der

Gefahr und ihrer Überwindung. Ohne Risiken gibt es keine

Entwicklung. Doch was ist noch als „kalkuliertes Risiko“

zu sehen, was als Leichtsinn? In der Betriebswirtschaft versucht

man, solche Fragen objektiv zu berechnen, Wagniskosten

und Vermeidungskosten gegeneinander aufzuwiegen.

Persönlich handelt man eher nach „Bauchgefühl“.

Wie ist es bei Ihnen: Wo stellen Sie sich der Gefahr? Neigen

Sie eher zu Angriff oder Flucht? Wo wagen Sie ein Risiko?

Welchen Preis sind Sie bereit zu zahlen, um die sichere

„Komfortzone“ zu verlassen und sich neue Horizonte zu erschließen?

Woher nehmen Sie den Mut dazu? Wovon fühlen

Sie sich heute bedroht? Hat sich Ihr Verständnis für Gefahren

im Laufe des Lebens gewandelt, und falls ja: Wodurch?

Nehmen Sie sich einen Stift und schreiben Sie Geschichte!

Adele von Bünau

Wie jedes Mal erfasste mich

auch eben wieder die

leichte Melancholie und

Nachdenkwelle, als ich die schon

wieder abgelaufene Fernsehzeitung

auf den Berg von Tageszeitungen

in die blaue Tonne warf. Daten,

Nachrichten, Momentaufnahmengelesen,

gesehen, vergessen, vorbei.

Ein für allemal. Unwiderruflich.

Tage, in denen wir gearbeitet,

gerannt, gefaulenzt, gestritten und

geliebt haben. Zeit, die bestenfalls

liebevoll im Gedächtnis bleibt, aber

auch Zeit, für die wir erleichtert

sind, sie hinter uns zu lassen. Und

doch bleibt ein klitzekleiner Teil

zurück. Wenn nicht im Gedächtnis,

dann mitunter in der Tonne. In der

blauen. Nicht lange, und höchstens

für zwei Wochen.

Der kleine, oftmals auch persönliche

Teil vergangener Zeit in Form

von Altpapier.

Die blaue Tonne – doch, ich

muss sagen, dass sie mir von allen

Tonnen die mit Abstand sympathischste

ist. Nicht nur, weil sie die

sauberste ist, sondern auch weil sie,

wenn sie könnte, am allermeisten zu erzählen hätte. Sie ist

für mich die „Blaue Blume“, nur eben als Tonne, und statt

dem Sinnbild der Romantik, die der Wehmut. Schön, dass

die Verantwortlichen das Blau

wählten. Ich finde, das passt

und macht Sinn. Diese Tonne

gibt mir, im Gegensatz zum 24

Stunden Takt der Uhr, durch den

zweiwöchigen Abholrhythmus

die Zeit, bei Bedarf noch mal

in Erinnerungen zu schwelgen

und mich ganz bewusst von den

oftmals achtlos weggeworfenen

„Tagen“ zu verabschieden. So

kann es z.B. mal sein, dass ich

eine alte Ausgabe der Siegener

Zeitung hervorkrame, um sie erneut

und diesmal ganz entspannt

mit dem Wissen der Gegenwart

zu lesen und damit dem Spruch

„Nichts ist so alt wie die Zeitung

von gestern“ ein Schnippchen

schlage. Es bringt mir was, denn

es gibt mir jedes Mal die Möglichkeit

einer kleinen Zeitreise

in die Vergangenheit, aber auch

die, durch erneutes, oft aufmerksameres

Lesen die Verfasser der

Artikel noch einmal für ihre Arbeit

wertzuschätzen.

Nichts ist selbstverständlich,

schon gar nicht unsere Zeit. Es

gilt ja nur, sie sich vermehrt bewusst zu machen.

Das Wie, das ist egal. Selbst blaue Tonnen sind geeignet.

Eva Schumacher

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