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Schlaf war lange ein Geheimnis. Fast so, als würde der<br />
menschliche Geist die Kränkung, dass er ein Drittel<br />
seines Lebens quasi ausgeschaltet ist, damit zurückzahlen,<br />
das Phänomen hartnäckig zu ignorieren. Erst<br />
seit Erfindung des EEG (Elektroenzephalogramm)<br />
und bildgebender Verfahren wie etwa MRT (Magnet-<br />
Das Ding auf meinem Nachttisch<br />
sieht aus wie eine Requisite aus<br />
einem Science-Fiction-Film: ein<br />
weißes Oval, unter dessen glänzender<br />
Oberfläche kryptische<br />
Symbole orange schimmern. Eine<br />
Lampe? Ein Lautsprecher? Ein<br />
Wecker? Irgendwie alles. Und<br />
mehr. Fünfzehn Minuten nachdem<br />
ich das Smart-Sleep-Gerät<br />
auf meinen Nachttisch gestellt<br />
und eingeschaltet habe, bin ich auch<br />
schon eingeschlafen. Weg. Wow. Allerdings<br />
war ich halt echt hundemüde.<br />
Schlaf gut! Gute Nacht! Träum schön!<br />
Gibt es freundlichere, friedlichere Aufforderungen<br />
in der deutschen Sprache?<br />
Aber wenn ich abends gegen 22 Uhr<br />
meiner Frau einen Gute-Nacht-Kuss gebe,<br />
haben diese Sätze oft einen fast ängstlichen<br />
Unterton: Schlaf gut. Mach’s gut.<br />
Hoffentlich wird’s nicht so schlimm.<br />
Denn: Unser Baby und die dreijährige<br />
Tochter leben nach dem Rock-’n’-Roll-<br />
Motto „Schlafen kann ich, wenn ich tot<br />
bin“. Schlafentzug gilt nach der Genfer<br />
Konvention als Folter. Gerade weil ich<br />
weiß, wie zerschmettert man sich nach<br />
einer kurzen Nacht mit vielen Unterbrechungen<br />
fühlt, will ich die wenigen<br />
Stunden Schlaf, die uns bleiben, maximal<br />
effizient zur Erholung nutzen – und<br />
teste deshalb ein paar Wochen lang neue<br />
aktuelle Schlaf-Apps und -Gadgets. Meine<br />
Erwartungen sind hoch. „Fühlen Sie<br />
sich ausgeruhter und fitter“, wirbt Philips<br />
für seine Schlaf-Technologien. Wäre das<br />
nicht schön?<br />
In unserem Gästezimmer richten wir ein<br />
temporäres Schlaflabor ein. Im ersten<br />
Schritt muss ich erst einmal eine Menge<br />
Apps auf dem Smartphone installieren,<br />
Nutzerkonten einrichten und AGBs<br />
ab nicken. Das Basis-Set-up: eine Sensor-<br />
Matte von Withings, die ich unter die<br />
Matratze lege, um meine Schlafdauer<br />
und -qualität zu messen. Die anfangs<br />
bereits erwähnte intelligente Lautsprecher<br />
lampe von Philips, die mittels<br />
Lichtstimmung und Geräuschen das<br />
E inschlafen und Aufwachen managen<br />
soll. Dazu noch eine Suunto-Smart-<br />
watch, die meine Schrittzahl und Körperdaten wie Puls<br />
und Blutdruck misst. Natürlich werden all diese Geräte<br />
mit WLAN, Apple Health und meiner Lauf-App Strava<br />
verbunden. Macht doch mit meinen Daten, was ihr<br />
wollt, ich muss ins Bett.<br />
80 Prozent der erwerbstätigen Menschen in Deutschland<br />
schlafen schlecht – seit 2010 ist der Anteil der 35-<br />
bis 65-Jährigen, die von Schlafstörungen betroffen sind,<br />
um 66 Prozent gestiegen. Die WHO rät, dass Erwachsene<br />
regelmäßig sieben Stunden pro Nacht ruhen sollen –<br />
und bezeichnet den verbreiteten Schlafmangel als „globale<br />
Gesundheitskrise“. Wer zu wenig schläft, hat eine<br />
geringere Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit –<br />
und eine stark erhöhte Wahrscheinlichkeit für folgende<br />
Schicksalsschläge: Herzinfarkt, Autounfall, Diabetes,<br />
Scheidung, Depression, Krebs und Demenz. Diese<br />
Fakten sind bekannt, aber weil das Problem – „Wann<br />
soll ich schlafen? Ich hab so viel zu tun!“ – so enorm erscheint<br />
wie der Plastikmüllkontinent im Pazifik oder der<br />
Klimawandel, machen wir weiter wie bisher, schlagen<br />
morgens die Augen auf, spüren die bleierne Müdigkeit<br />
in Knochen und Geist und denken für einen Moment,<br />
dass das mit dem Sterben vielleicht doch nicht ganz so<br />
schlimm ist. Kein Wunder, dass Schlafforscher wie<br />
Matthew Walker, Neuropsychiater an der kalifornischen<br />
Universität Berkeley und Autor des Bestsellers „Why We<br />
Sleep“, versuchen, die Menschen aus ihrer Sorglosigkeit<br />
aufzurütteln. „Wer zu wenig schläft, betreibt eine Art<br />
Selbst-Euthanasie“, schreibt er und fügt trocken hinzu:<br />
„Männer, die weniger als sechs Stunden schlafen, haben<br />
kleinere Hoden und das Testosteronlevel eines zehn<br />
Jahre älteren Mannes.“ Vielleicht denkt der Professor ja,<br />
er könne die Wahnsinnigen auf die Art aufwecken?<br />
Auch ich gehe regelmäßig viel zu spät ins Bett. Weil die<br />
To-do-Liste nie leer ist – oder eher: weil ich die seltene<br />
Ruhe und Leere in den späten Stunden des Tages genieße.<br />
Nun aber gehe ich brav um 22.30 Uhr in unser<br />
„Schlaflabor“, die Bedingungen sind laut Health Mate-<br />
App optimal: 18 Grad Celsius, geringe Luftfeuchtigkeit.<br />
Und auch mein Smartphone habe ich in den Schrank<br />
verbannt, weil das blaue Licht des LED-Bildschirms die<br />
Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin unterdrückt.<br />
Ich starte die Lautsprecher-Lampe, die mich in 30 Minuten<br />
in den Schlaf begleiten soll. Man kann zwischen<br />
Regen-Geräuschen, Blätterrascheln und Ozeanwellen<br />
wählen. Das Licht, das das Science-Fiction-Oval aussendet,<br />
ist samtig warm und wird langsam schwächer wie<br />
ein natürlicher Sonnenuntergang (Menüpunkt „ Tropical<br />
Island“). Den Moment, in dem meine künstliche Sonne<br />
ins Meer eintaucht, erlebe ich schon nicht mehr. Die<br />
Nacht jedoch ist unruhig, ich wache dreimal auf. Um<br />
6.15 Uhr ist das Baby wach. Die Health Mate-App zeigt,<br />
dass ich nur zwei kurze Tiefschlafphasen hatte, und<br />
spuckt einen Score von 62 von 100 aus. Dunkelorange.<br />
Ich denke: Herzinfarkt. Demenz. Kleine Hoden. Hilfe!<br />
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