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30 KULTUR JOKER Literatur

Das Jungfernhäutchen gibt es nicht!

Im Gespräch: Oliwia Hälterlein, Autorin und Kulturwissenschaftlerin

Als Kulturwissenschaftlerin,

Autorin und Dramaturgin

bewegt sich Oliwia Hälterlein

an der Schnittstelle

zwischen Feminismus und

Kunst. Im vergangenen Jahr

veröffentlichte sie ihr erstes

Buch „Das Jungfernhäutchen

gibt es nicht: Ein breitbeiniges

Heft“ (Maro Verlag,

2020). Elisabeth Jockers

sprach mit ihr.

Kultur Joker: Der Titel deiner

Publikation „Das Jungfernhäutchen

gibt es nicht“ stellt

die Welt mancher Leser*innen

auf den Kopf. Noch einmal für

uns erklärt: Was ist das Jungfernhäutchen?

Und was nicht?

Hälterlein: Der Titel ist auf

jeden Fall eine Provokation

und soll in erster Linie signalisieren,

dass das kulturelle Konstrukt

des Jungfernhäutchens

nicht existiert. Damit meine

ich, dass es kein Häutchen gibt,

das anzeigt, ob du Jungfrau bist

oder nicht, weder vor der Vagina

noch vor dem Penis. Das

Problem an diesem Mythos ist,

dass das Jungfernhäutchen für

viel mehr als nur Jungfräulichkeit

steht. Es symbolisiert Reinheit,

Unschuld und wird wie ein

Beweismittel gegen die Person

mit Vagina genutzt: Wenn du

beim ersten Mal nicht blutest,

kannst du keine Jungfrau gewesen

sein.

Kultur Joker: Ist das Jungfernhäutchen

also ein kulturelles

Konstrukt?

Hälterlein: Natürlich, ich

würde sogar sagen, dass es

an unserem Körper kaum ein

Merkmal gibt, das so ideologisch

aufgeladen ist, wie das

Jungfernhäutchen. Es wird ein

Häutchen erfunden, das bewei-

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Südbaden

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sen soll, ob eine Person mit Vagina

– in der Sprache des Patriarchats:

die Frau – noch Jungfrau

ist, um sie anhand dessen

entsprechend zu bewerten.

Kultur Joker: Und wie kann

das in einer medizinisch aufgeklärten

Gesellschaft passieren?

Hälterlein: Bei der Auseinandersetzung

mit dem Thema

sind mir rund um die Vulva,

Vagina und Klitoris viele Leerstellen

und Halbwahrheiten

aufgefallen, obwohl es schon

einige Studien dazu gibt, die

anatomische Fakten liefern

könnten. Das ist in meinen Augen

das Hauptproblem, denn

wenn wir eine sexuelle Bildung

erhalten würden, die auf anatomischen

Fakten basiert, würde

es den Mythos und die damit

verbundene Auf- und Abwertung

weiblicher Sexualität nicht

geben.

Kultur Joker: Geschichtlich

gesehen gab es eine sexuelle

Revolution in den 1960/70er

Jahren, seitdem scheint sich

aber nicht viel verändert zu

haben. Welche Bedeutung hat

denn das Jungfernhäutchen

auch heute noch für Individuum

und Gesellschaft?

Hälterlein: Ich bin absolut

der Meinung, dass wir uns noch

immer an einem Punkt befinden,

an dem sexuelle Bildung

nicht adäquat stattfindet. Auch

wenn das Jungfernhäutchen im

Alltag nicht immer eine existenzielle

Rolle spielt, ist der

Mythos Jungfernhäutchen Teil

des Narrativs, wie wir über

Sex sprechen und urteilen. Was

mich persönlich stark getroffen

hat, ist, dass ich nicht die erste

Person bin, die darüber geschrieben

hat. Es gibt bereits

Unikat von Stephan Rambaud, Meilleur Ouvrier de France

unzählige Aktivist*innen und

Publikationen zu dem Thema.

Aber leider ist all das in einer

Nische passiert und selten im

Mainstream angekommen. So

wie unsere Welt gerade funktioniert,

sehe ich durch soziale

Medien eine Chance, diesen

Themen mehr Sichtbarkeit und

Nachhaltigkeit zu geben. Dennoch

ist es wichtig, dass wir

immer wieder darauf hinweisen.

Kultur Joker: In deinem Heft

beschreibst du ein Szenario,

bei dem du mit gespreizten

Beinen vor einem Spiegel sitzt

und deinen eigenen Körper entdeckst.

Du offenbarst, dass dir

ein feministischer Umgang mit

deinem eigenen Körper schwer

fällt und dir so einiges abverlangt.

Mit welchen angelernten

Mustern und Emotionen siehst

du dich in deinem Alltag konfrontiert?

Hälterlein: Ja, diese Szene

zeigt deutlich, dass wir uns

selbst nicht neutral begegnen

können. Es ist vielmehr so,

dass wir durch das Patriarchat,

das sich in Sprache und Kultur

widerspiegelt, genau gesagt bekommen,

was angeblich schön,

normal und gesund ist. Dadurch

sind wir überhaupt nicht mehr

im Stande, uns so zu begreifen,

wie wir tatsächlich sind: Individuen.

Das ist für mich das

perfide daran, denn auch wenn

ich mich total viel mit feministischen

Theorien beschäftige,

bin ich im Kern ein Teil dieser

Gesellschaft, der sich nicht frei

von äußeren Gefühlen und Zuschreibungen

machen kann.

Kultur Joker: Läuft in unserem

Bildungswesen, auch

oder gerade in Bezug auf sexuelle

Aufklärung, viel schief?

Hälterlein: Ja, da läuft mehr

als nur ein bisschen was schief.

Sexuelle Bildung wird häufig

mit der Prävention von Schwangerschaften

und Geschlechtskrankheiten

gleichgesetzt. Im

Mittelpunkt steht da natürlich

die Heterosexualität als Norm

für alle und Kindern werden binäre

Geschlechtsidentitäten aufgezwungen.

In diesem Narrativ

gewinnt natürlich der Penis und

die Lust des Penis, denn darum

geht es ja auch. Der Penis ejakuliert

und damit können Kinder

gezeugt werden. Aber wer hat

heutzutage denn nur noch Sex

um Kinder zu zeugen?

Kultur Joker: Wie werden

diese Inhalte vermittelt? Schulen

werden heute ja vermehrt

für veraltetes Material kritisiert…

Hälterlein: Wenn ich Unterrichtsmaterialien

sichte, dann

sehe ich da super erschreckende

Dinge. Es gibt keine äußeren

Genitalien, nur einen Schlitz

mit dem Vermerk „Scheide“.

Die gesamte Vulva und das

Lustzentrum um die Klitoris

werden noch immer komplett

verschwiegen und tabuisiert.

Da frage ich mich, woher diese

Angst vor der Sexualität der

Vulva kommt.

Kultur Joker: Das knüpft

daran an, dass du in deinem

Buch auf die Macht der Sprache

eingehst. Was macht das

mit mir, wenn mein Intimbereich

durch Begriffe wie

Schamhügel oder Schamlippen

immer wieder zu einem

Zentrum der Scham gemacht

werden?

Oliwia Hälterlein Foto: MINZ&KUNST

Hälterlein: Das Gefühl der

Scham ist eine angelernte Empfindung,

die wir als Kinder überhaupt

nicht spüren und erst mit

der Zeit lernen. Kleines Gedankenexperiment:

Was wäre, wenn

wir damit aufwachsen würden,

dass unser Intimbereich ein Ort

der Lust ist? Oder wenn wir neutrale

und anatomisch korrekte

Begriffe verwenden, beispielsweise

Vulva, und einen Körper

einfach mal Körper sein lassen,

ohne Be- und Abwertung.

Kultur Joker: Und gibt’s

schon Pläne für ein weiteres

Heft?

Hälterlein: Was ich konkret

plane sind Workshops für

Multiplikator*innen, also Personen

im sozialen und pädagogischen

Bereich, damit über den

Mythos auf unterschiedlichen

Ebenen aufgeklärt wird. Und

ich gebe Workshops für angehende

Mediziner*innen, wo ich

ihnen beibringe, was die Vulva

ist und wo der Mythos beginnt.

Mit dem Ziel, die anatomischen

Leerstellen und falschen Angaben

in den Medizinbüchern und

Unterrichtsmaterialien zu korrigieren.

Kultur Joker: Liebe Oliwia,

wir danken Dir für das Gespräch!

Weitere Infos: www.oliwiaismus.de

Petitionen: www.

change.org/p/keinbockaufmythen-schluss-mit-demjungfernh%C3%A4utchen-mythos

www.change.org/p/

bzga-r%C3%BCckruf-desjungfernh%C3%A4utchen-mythos

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