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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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10 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />

sichtspunkten können fünf DP-Gruppen klassifiziert werden, die sich, so die These, im Hinblick<br />

auf die nach 1945 von ihnen entwickelten Strategien und organisatorischen Strukturen tendenziell<br />

unterschiedlich verhielten: Ehemalige ZwangsarbeiterInnen (1) und Kriegsgefangene (2),<br />

die zwischen 1941 und 1945 von den Deutschen ins „Reich“ deportiert worden und Flüchtlinge<br />

(3), die aus <strong>der</strong> Sowjetunion nach Westen geflohen waren, Revolutions- und Bürgerkriegsflüchtlinge<br />

(4), die zwischen 1917 und 1939 aus dem Russischen Reich bzw. <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

geflohen waren; schließlich die <strong>russischen</strong> Kollaborateure <strong>der</strong> Deutschen und Anhänger des<br />

sowjetischen Überläufers General Andrej Vlasov und seiner Armee (5), die – in Verkennung<br />

o<strong>der</strong> unter Missachtung <strong>der</strong> deutschen Zielsetzungen – gehofft hatten, Russland mit Hilfe <strong>der</strong><br />

Deutschen „vom Bolschewismus“ zu befreien. Abgesehen von den ehemaligen Zwangsarbeiter-<br />

Innen und Kriegsgefangenen gibt es zu keiner dieser Gruppen verlässliche Zahlen, so dass die<br />

Relationen, in denen sie nach Kriegsende zueinan<strong>der</strong> standen, für bestimmte Zeiträume nur<br />

vermutet werden können. Die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen waren<br />

dabei zunächst eindeutig die größten Gruppen. Ihr Anteil an <strong>der</strong> Gesamtzahl <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>DPs</strong><br />

verringerte sich jedoch stark mit den massenhaften Rückführungen bis Ende September 1945.<br />

Zahlenmäßig bedeutend waren auch die nach den Oktoberereignissen 1917 und dem anschließenden<br />

Bürgerkrieg aus Russland geflohenen „alten“ Emigranten. Sie waren nach dem Ende des<br />

Zweiten Weltkrieges zum Teil noch immer staatenlos und lebten in DP-Lagern. Gänzlich unbestimmbar<br />

bleiben die Zahlen <strong>der</strong> sowjetischen Flüchtlinge. Die kleinste, aber in den <strong>russischen</strong><br />

DP-Diskursen stark vertretene Gruppe bildeten schließlich die ehemaligen Kollaborateure <strong>der</strong><br />

Deutschen. Jede <strong>der</strong> genannten Gruppen soll im Folgenden kurz skizziert werden, um ihre<br />

Ausgangsbasis in <strong>der</strong> euphemistisch als „Stunde Null“ bezeichneten Nachkriegssituation zu<br />

bestimmen und einen Eindruck von den bei Kriegende hinter ihnen liegenden Erfahrungen zu<br />

vermitteln. Damit soll <strong>der</strong> Kontext ausdifferenziert werden, in dem die späteren Entscheidungen<br />

<strong>der</strong> <strong>DPs</strong> bezüglich <strong>der</strong> Repatriierung und Umsiedlung standen und ihr soziales und kulturelles<br />

Leben organisiert wurde.<br />

Ehemalige ZwangsarbeiterInnen<br />

Die im Rahmen <strong>der</strong> nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ aus den von <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

besetzten Gebieten West- und Osteuropas in das Deutsche Reich verschleppten ehemaligen<br />

ZwangsarbeiterInnen bildeten den zahlenmäßig größten Teil <strong>der</strong> Repatrianten. Nach sowjetischen<br />

Angaben wurden im Zeitraum von 1941 bis 1945 knapp 4,8 Millionen sowjetische Zivilisten<br />

in das Deutsche Reich und die von <strong>der</strong> Wehrmacht besetzten Gebiete Westeuropas deportiert.<br />

15 In dieser Angabe sind allerdings auch diejenigen Zivilisten als zwangsverschleppt enthalten,<br />

welche die ehemals von den Deutschen besetzten Gebiete bzw. die Sowjetunion freiwillig<br />

verlassen hatten. Etwa 2,65 Millionen Zivilisten wurden nach Angaben des <strong>russischen</strong> Historikers<br />

V.N. Zemskov bis zum ersten März 1946 aus dem Operativbereich <strong>der</strong> Roten Armee und<br />

Westeuropa repatriiert. 16 Eines <strong>der</strong> auffälligsten Merkmale dieser Gruppe war ihr geringes<br />

Durchschnittsalter, das laut nationalsozialistischer Statistik bei 20 Jahren lag; doch waren viele<br />

noch erheblich jünger, da auch 15- bis 16jährige ins Reich verschleppt wurden. Über die Hälfte<br />

von ihnen waren Frauen, so dass Ulrich Herbert 1998 die demografischen Charakteristika <strong>der</strong><br />

ZwangsarbeiterInnen in einem Aufsatz auf den Satz zuspitzte: „Der durchschnittliche Zwangsarbeiter<br />

in Deutschland 1943 war eine 18jährige Schülerin aus Kiew.“ 17 Im Sommer 1944 waren<br />

15<br />

GARF, Abteilung <strong>der</strong> Spezialaufbewahrung GARF 9526s. (Bestand des „Bevollmächtigten des Volkskommissariates<br />

für Repatriierungsangelegenheiten“), 1s., 1118, S. 223–224, zit. nach Goeken: Von <strong>der</strong> Kooperation zur Konfrontation,<br />

S. 315.<br />

16<br />

Vgl. Tabelle 1 im Kapitel „Statistiken zu den sowjetischen displaced persons“.<br />

17<br />

Herbert, Ulrich: Sowjetische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit in Deutschland, 1941–1945, in:<br />

Čistova, Bella E./Čistov, Kirill V. (Hg.): „Fliege, mein Briefchen, von Westen nach Osten …“. Auszüge aus Briefen<br />

russischer, ukrainischer und weißrussischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter 1942–1944, Bern/Berlin/<br />

Frankfurt a. M./New York/Paris/Wien: Lang, 1998, S. 71–95, hier S. 85.

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