„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
16 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />
ende geschätzt wird, rein zahlenmäßig letztlich verschwindend. 41 Bei den individuell angeworbenen<br />
„Hilfswilligen“ konnte dabei von Kollaboration im eigentlichen Sinne kaum die Rede<br />
sein, da es sich bei ihnen in <strong>der</strong> Regel um sowjetische Kriegsgefangene handelte, denen eine<br />
existenzielle Mangelsituation nur die Wahl ließ, zu verhungern o<strong>der</strong> „freiwillig“ mit den Deutschen<br />
zusammenzuarbeiten bzw. in die so genannten „Osttruppen“ einzutreten. Diese kamen<br />
dann eher im Westen als an <strong>der</strong> Ostfront zum Einsatz. Die „Freiwilligenverbände“ bildeten<br />
jeweils ethnisch homogene Gruppen von Russen, Ukrainern, Weißrussen, Balten, Kaukasiern,<br />
Kalmücken, Krim- und Wolgatataren und Kosaken und wurden im Rahmen von Kriegshandlungen<br />
<strong>der</strong> Wehrmacht, mitunter auch bei <strong>der</strong> SS, eingesetzt. Initiiert vom NKVD und<br />
SMERŠ 42 , wurden die Angehörigen dieser Verbände und Truppen in <strong>der</strong> Sowjetunion nach<br />
Kriegsende zusammenfassend als „Vlasov-Leute“ bezeichnet und behandelt, obwohl sie in<br />
keiner Beziehung zu General Vlasov gestanden und nie in <strong>der</strong> Russischen Befreiungsarmee<br />
gekämpft hatten.<br />
Die hier vorgenommene Klassifikation von DP-Gruppen soll den Hintergrund für die Auswertung<br />
meiner Interviews sowie des übrigen verwendeten Quellenfundus im Hauptteil bilden. Die<br />
sehr unterschiedliche geistige, politische und soziale Ausgangsbasis, mit <strong>der</strong> sie in die DP-Lager<br />
kamen, spiegelte sich sowohl in ihrem Verhältnis zu ihrer Umgebung als auch in ihrer Haltung<br />
zur Repatriierung, zur Arbeit <strong>der</strong> United Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA),<br />
den Resettlement-Programmen <strong>der</strong> International Refugee Organization (IRO) und in dem Grad,<br />
in dem sie sich selbst organisierten.<br />
Verwendete Quellen<br />
Anhand von lebensgeschichtlichen Erinnerungen sollen in dieser Studie einige konstituierende<br />
Momente und strukturelle Bedingungen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> DP-Geschichte in Deutschland und sich<br />
aus diesen ergebende Handlungsräume <strong>der</strong> <strong>DPs</strong> rekonstruiert werden. Dabei wird von einer<br />
Wechselbeziehung zwischen Lebensgeschichte und Geschichte ausgegangen, wie sie 1994 von<br />
Gabriele Rosenthal formuliert wurde:<br />
Wenn Menschen ihre biographischen Erlebnisse erzählen, verweisen diese in die historisch-soziale<br />
Wirklichkeit eingebundenen Erlebnisse auf die über die persönliche Geschichte<br />
des Biographen hinausgehende kollektive Geschichte. Das Leben von Menschen<br />
spielt sich in einer historisch-sozialen Wirklichkeit ab, es ist einerseits in geschichtliche<br />
Strukturen und Prozesse eingebunden, und an<strong>der</strong>erseits konstituiert das Leben von Menschen<br />
die soziale Wirklichkeit. 43<br />
Drei Erkenntnisinteressen im Umgang mit erzählten Lebensberichten sind möglich: Die Frage<br />
nach dem biografischen Ablauf eines Lebens, die Frage nach dem Erleben historischer Zeit und<br />
die Frage nach <strong>der</strong> gegenwärtigen Perspektive eines Menschen auf diese Zeit. 44 Erst in <strong>der</strong><br />
Zusammenschau dieser drei Ebenen lassen sich die Einzelaussagen über erlebte Ereignisse in<br />
die individuelle Biografie des Erzählers bzw. <strong>der</strong> Erzählerin einordnen und auf die fragliche<br />
geschichtliche Epoche beziehen. Die vorliegende Studie arbeitet auf sehr breiter Quellenbasis<br />
und berücksichtigt eine Vielzahl unterschiedlicher Zeitzeugenberichte, denen ein jeweils eigener<br />
historischer Status zukommt: Interviews, biografische Erzählungen und Briefe. Während die<br />
Erzählungen ehemaliger <strong>DPs</strong> in den Interviews und in den überlieferten Memoiren erinnerte<br />
41<br />
Polian: Deportiert nach Hause, S. 40–41.<br />
42<br />
SMERŠ: „Smert’ špionam” („Tod den Spionen“), Hauptverwaltung für Gegenspionage des Volkskommissariats<br />
für Verteidigung <strong>der</strong> UdSSR<br />
43<br />
Rosenthal, Gabriele: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen<br />
für die Analyse biographischer Texte, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte.<br />
Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster: Westfälisches Dampfboot, 1994, S. 125–138, hier<br />
S. 128.<br />
44<br />
Ebd., S. 133–134.