„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
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28 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />
Persönliche Netzwerke<br />
Es ist davon auszugehen, dass <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong> sowjetischen Displaced Persons nach<br />
dem Krieg über keine ausgeprägten persönlichen Netzwerke in <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft<br />
verfügte. Um eine Solidarisierung <strong>der</strong> Bevölkerung mit „den Fremdvölkischen“ zu verhin<strong>der</strong>n,<br />
hatte von Anfang an die Isolierung und Kasernierung <strong>der</strong> ZivilarbeiterInnen zur nationalsozialistischen<br />
Zwangsarbeitspolitik gehört: „Wesentlich für die Trennung <strong>der</strong> Zivilarbeiter und<br />
-arbeiterinnen polnischen Volkstums von <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung ist ihre Unterbringung in<br />
geschlossenen Unterkünften.“ 68 Dies galt nicht nur für polnische, son<strong>der</strong>n in noch stärkerem<br />
Maße für die in <strong>der</strong> „Fremdarbeiter“-Hierarchie noch weiter unten stehenden „Ostarbeiter“<br />
(Russen, Ukrainer, Weißrussen), die seit Ende 1941 eingesetzt wurden. Diese Trennung von<br />
Deutschen und Zwangsarbeitern ließ sich für Großbetriebe <strong>der</strong> Industrie und des Bergbaus<br />
problemlos umsetzen, indem auf dem Gelände solcher Betriebe o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> näheren Umgebung<br />
abgeschlossene Lager errichtet wurden. In <strong>der</strong> Landwirtschaft o<strong>der</strong> in privaten Haushalten, die<br />
Russinnen gerne als billige Dienstmädchen beschäftigten, war die getrennte Unterbringung <strong>der</strong><br />
ZwangsarbeiterInnen dagegen kaum realisierbar. Hier ergaben sich notwendig persönliche<br />
Beziehungen, die mitunter über das Kriegsende hinaus fortgesetzt wurden. Wie oben bereits<br />
erwähnt, kamen nach Schätzungen von L. Holborn etwa 500.000 <strong>DPs</strong> nach dem Krieg in landwirtschaftlichen<br />
Betrieben unter, ohne sich je um Versorgung an die UNRRA o<strong>der</strong> IRO zu<br />
wenden. 69 Große Bedeutung hatten auch persönliche Beziehungen, die unter den befreiten<br />
ZwangsarbeiterInnen nach Kriegsende entstanden, wie zum Beispiel bei Natalja Pavlovna und<br />
ihrem deutschen Partner o<strong>der</strong> Anastasija Ivanovna, <strong>der</strong>en späterer Mann aus politischen Gründen<br />
nicht in die Sowjetunion zurückkehren wollte. Wichtige soziale Beziehungen waren auch<br />
dort vorhanden, wo ehemalige ZwangsarbeiterInnen o<strong>der</strong> Kriegsgefangene Angehörige hatten,<br />
die Russland bzw. die Sowjetunion nach den Oktoberereignissen 1917 verlassen hatten und nun<br />
im Ausland lebten. Sie scheinen prädisponiert für eine Verweigerung <strong>der</strong> Rückkehr in die<br />
UdSSR gewesen zu sein, da auf ihren Familien in <strong>der</strong> Sowjetunion ebenso wie auf den Familien<br />
von ehemaligen Offizieren und Soldaten <strong>der</strong> Weißen Armee ohnehin ein kollektiver Makel<br />
lastete, <strong>der</strong> zu Erschwernissen bei <strong>der</strong> Aufnahme eines Studiums, zum Verlust des Arbeitsplatzes<br />
und sozialem Elend führen konnte o<strong>der</strong> solche Entwicklungen zumindest befürchten ließ.<br />
Hier lassen sich Parallelen zu den sowjetischen Flüchtlingen ziehen, unter denen ebenfalls viele<br />
zu bereits ausgewan<strong>der</strong>ten Verwandten im Ausland stießen. Solche Verwandte o<strong>der</strong> Freunde<br />
konnten damit sowohl <strong>der</strong> Auslöser für eine Flucht aus <strong>der</strong> Sowjetunion sein als auch ein Motiv<br />
für die Rückkehrverweigerung von Verschleppten, selbst wenn diese sie – wie im Fall von<br />
Anastasija Ivanovna, die ihren nach 1917 emigrierten Onkel in Deutschland und Amerika<br />
suchte – letztlich nie fanden. Kam es jedoch zu einer Begegnung von neuen und alten Auswan<strong>der</strong>ern,<br />
so spielten letztere eine Schlüsselrolle für die erste Orientierung und Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
<strong>DPs</strong>. Tatjana Stepanovna berichtete in unserem Gespräch von einem umgekehrten Fall, ihrem<br />
Bru<strong>der</strong> Georgij Zotov, <strong>der</strong> im August 1945 von Paris nach Ejsk ausreiste, wo die Mutter seiner<br />
Frau, einer von den Deutschen verschleppten ehemaligen Zwangsarbeiterin, lebte. Nachdem er<br />
in <strong>der</strong> Sowjetunion verschiedenen Repressalien ausgesetzt war, wurde Zotov in <strong>der</strong> französischen<br />
Botschaft in Moskau vor die Wahl gestellt, für immer in <strong>der</strong> UdSSR zu bleiben, wo er<br />
fürchten musste, auf Grund seiner Herkunft und <strong>der</strong> dem Stalinismus innewohnenden Logik<br />
über kurz o<strong>der</strong> lang als „Spion“ verhaftet und möglicherweise erschossen zu werden, o<strong>der</strong> ohne<br />
Frau und Kind nach Westeuropa zurückzukehren. Er wählte letzteres, da er glaubte, seiner<br />
Familie in <strong>der</strong> Sowjetunion mehr zu schaden als außerhalb ihrer Grenzen. Nachdem er das Land<br />
68 Reichsführer SS und Chef <strong>der</strong> Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern an Reichsarbeitsminister, 9.3.<br />
1940, DO X, S. 24, zit. nach Lehmann, Joachim: Zwangsarbeiter in <strong>der</strong> deutschen Landwirtschaft 1939–1945, in:<br />
Herbert, Ulrich (Hg.): Europa und <strong>der</strong> „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-<br />
Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen: Klartext, 1991, S. 127–139, hier S. 131, 139 (Anm. 22).<br />
69 Die Zahl bezieht sich auf Deutschland, Österreich, Italien und China zusammen, wobei Holborn davon ausgeht,<br />
dass die meisten dieser Fälle in Deutschland auftraten, vgl. Holborn: International Refugee Organization, S. 195.