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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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„Stiller als Wasser, tiefer als Gras“ 37<br />

sein würde, unbemerkt unter den Deutschen zu sitzen und nach Möglichkeit die Aufmerksamkeit<br />

nicht auf uns zu lenken. Aber das war auch die hungrigste Lösung. 97<br />

Nekljudov fand eine bescheidene Arbeit als Mechaniker und lebte unabhängig von UNRRA und<br />

IRO bis zu dem Zeitpunkt, als sich die Familie Ende 1948 um Auswan<strong>der</strong>ung in die Vereinigten<br />

Staaten bewarb. Über einen Bekannten <strong>der</strong> Schwester beim Wohnungsamt erhielt er zwei Zimmer<br />

in einem Privathaus. Lei<strong>der</strong> fanden sich in den Memoiren Nekljudovs keine Hinweise auf<br />

die Details seiner Registrierung bei <strong>der</strong> Meldebehörde und er konnte sich auch bei meiner<br />

telefonischen Nachfrage nicht daran erinnern, welche Nationalität er dort angegeben hatte. Es<br />

stellte sich die Frage, auf welchem Wege es formal möglich war, sich als nicht deutscher Staatsangehöriger<br />

– und nicht Vertriebener – außerhalb von Lagern und unabhängig von den Hilfsorganisationen<br />

UNRRA und IRO offiziell registrieren zu lassen. Auf eine Archivanfrage antwortete<br />

die Göttinger Stadtverwaltung am 15. November 2002, das Göttinger Ordnungsamt habe<br />

zur Staatsangehörigkeit Nekljudovs vermerkt: „staatenlos (nicht nachgewiesen)“. 98 Auf diese<br />

Weise war es <strong>DPs</strong> möglich, in den westlichen Zonen (zumindest jedoch in <strong>der</strong> britischen Zone)<br />

als „Staatenlose“ vollkommen legal zu leben, ohne offiziell als <strong>DPs</strong> registriert zu sein. Ein Teil<br />

<strong>der</strong> Unschärfen in den offiziellen DP-Statistiken ist daher mit einem solchen „Untertauchen“ in<br />

<strong>der</strong> deutschen Gesellschaft zu erklären. Da allerdings <strong>der</strong> größte Teil <strong>der</strong> <strong>DPs</strong> und Flüchtlinge<br />

kaum über vergleichbare soziale Kontakte außerhalb <strong>der</strong> Lager verfügte, in denen sie bis zu<br />

ihrer Befreiung gelebt hatten bzw. außerhalb <strong>der</strong> durch ihre Arbeit bestimmten Lebenszusammenhänge,<br />

ist davon auszugehen, dass bei Nekljudov und seiner Familie außergewöhnlich<br />

günstige Umstände zusammentrafen, was in dieser Form sicherlich eher selten war.<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen sowjetische Repatriierungsoffiziere<br />

Im Abkommen von Jalta war <strong>der</strong> Einsatz von sowjetischen Repatriierungsoffizieren festgelegt<br />

worden, die <strong>der</strong> offiziellen Repatriierungsbehörde angehörten und Diplomatenstatus besaßen.<br />

Ihre Aufgabe war es, in den westalliierten Lagern Sowjetbürger zu identifizieren und sie zur<br />

Repatriierung zu bewegen. Die Männer, denen diese Aufgabe übertragen wurde, rekrutierten<br />

sich aus dem Mitarbeiterstamm <strong>der</strong> Spionageabwehrorganisation SMERŠ o<strong>der</strong> des NKVD und<br />

hatten in <strong>der</strong> Regel nicht an den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges teilgenommen. Ihnen war<br />

we<strong>der</strong> die beson<strong>der</strong>e Problematik <strong>der</strong> in Kriegsgefangenschaft geratenen Rotarmisten bekannt,<br />

noch verfügten sie über Einblicke in die Zusammenhänge <strong>der</strong> Kriegsführung. Für die Kategorisierung<br />

ihrer gefangenen Landsleute als potenzielle Vaterlandsverräter waren sie daher sehr<br />

empfänglich. Auch über den Kontext <strong>der</strong> Verschleppung von ZwangsarbeiterInnen durch die<br />

Deutschen hatten sie nur ungefähre Vorstellungen, da SMERŠ und NKVD von ihren Zielvorgaben<br />

her vor allem daran interessiert waren, „Verräter“ und „Volksfeinde“ ausfindig zu machen.<br />

Dies spiegelte sich in ihrem Verhalten gegenüber den in den DP-Lagern lebenden Menschen.<br />

Bereits unmittelbar nach <strong>der</strong> Befreiung konfrontierten sie sie mit Unterstellungen wie: „Ihr habt<br />

Euch freiwillig in die Hand <strong>der</strong> Deutschen begeben“ o<strong>der</strong> „Ihr habt wohl nur wegen <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />

mit den Deutschen überlebt“. 99 Oft verschafften sich die Repatriierungsoffiziere<br />

gewaltsam Zutritt zu den DP-Lagern und lehnten eine Begleitung durch westalliierte Offiziere<br />

als unzulässige Kontrolle ab. In den Lagern warben sie für die Rückkehr in die Sowjetunion mit<br />

Beschwörungen einer geradezu märchenhaften Zukunft „in <strong>der</strong> Heimat“; mitunter nahm ihre<br />

Agitation bedrohliche Züge an und sie beschimpften ihre Landsleute offen als „Lumpen“ und<br />

„Verräter“. Dieses Verhalten bewirkte bei den in den DP-Lagern lebenden ehemals sowjetischen<br />

Bürger eine dem erwarteten Effekt diametral entgegengesetzte Haltung zur Repatriierung.<br />

97 Ebd., S. 72.<br />

98 Vgl. Schreiben <strong>der</strong> Stadt Göttingen (Ordnungsamt) an Gabriel Superfin vom 15. November 2002, Historisches<br />

Archiv <strong>der</strong> <strong>Forschungsstelle</strong> Osteuropa an <strong>der</strong> Universität Bremen.<br />

99 Goeken: Von <strong>der</strong> Kooperation zur Konfrontation, S. 322.

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