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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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„Stiller als Wasser, tiefer als Gras“ 33<br />

verloren hatten o<strong>der</strong>, wie im Falle <strong>der</strong> ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen, diese von<br />

den Deutschen konfisziert worden waren. Dabei halfen ihnen oft die in den ersten Monaten nach<br />

<strong>der</strong> Befreiung in den Lagern gegründeten Komitees, <strong>der</strong>en Aufgabe es nach den Vorstellungen<br />

Eisenhowers war, zwischen <strong>DPs</strong> und Okkupationsbehörden zu vermitteln. Alternativ zu diesen<br />

offiziellen Komitees gab es inoffizielle „Interessenvertreter“ <strong>der</strong> <strong>DPs</strong>, die Bescheinigungen und<br />

Dokumente ausstellten, die bei einer Kontrolle vor <strong>der</strong> Überstellung in ein Repatriierungslager<br />

schützen sollten. Tat’jana Fesenko berichtet von einem „Komitee“ in Bamberg, das angeblich<br />

aus Vertretern des „Ukrainischen Roten Kreuzes in Genf“ bestand und das gegen Bezahlung<br />

Bescheinigungen „mit imposanten Siegeln“ ausstellte. Zavolokin berichtet von einer regelrecht<br />

professionell betriebenen Fälschertätigkeit in Bayern:<br />

Aus Riem ging eine ‚direkte Leitung’ in die Münchener Ruinen, wo in einer halb erhaltenen<br />

kleinen Villa das berühmte ‚Jur’evskij-Zentrum’ bereits seine Arbeit aufgenommen<br />

hatte, das sich mit <strong>der</strong> Registrierung von Russen und <strong>der</strong> Beschaffung ‚offizieller’ Dokumente<br />

in englischer Sprache für sie beschäftigte, natürlich mit Foto und Stempel. Alle überlebenden<br />

– alte, neue und neueste – Flüchtlinge verwandelten sich in ‚Staatenlose’. 82<br />

Diese „Verwandlung“ verlief nicht immer komplikationslos, da Identitäten mitunter mehrfach<br />

geän<strong>der</strong>t wurden. 83 Der ukrainische Dichter Igor Kaczurowskyj, <strong>der</strong> als ukrainischer DP in<br />

einem österreichischen Lager gelebt hat, berichtete von einem Fall, in dem ein nach seinem<br />

Geburtsort befragter Georgier, <strong>der</strong> sich als Westukrainer aus <strong>der</strong> Stadt Rowno ausgab, im Gemeindeamt<br />

von Seebaden (Kärnten) nervös die Taschen nach seinen (zweifellos gefälschten)<br />

Dokumenten abklopfte und dabei verzweifelt ausrief: „In welcher Tasche bin ich geboren?“ 84<br />

Ironisierend heißt es dazu im „DP-logischen Alphabet“ unter dem Buchstaben M:<br />

M –hm – hm – hm – antwortet <strong>der</strong> DP auf die Frage <strong>der</strong> Kommission, wer er sei. „Ich<br />

bin, sozusagen, Jugoslawe, aber in Litauen geboren, habe bis ’38 in Rumänien gelebt,<br />

aber von <strong>der</strong> Nationalität und Religion her bin ich … staatenlos, polnischer Staatsbürger.<br />

Von den Fremdsprachen verstehe ich außer russisch ukrainisch.“ Die Kommission überprüft<br />

[solche Angaben] für gewöhnlich wenig. Die richtigen Leute sind nicht da. 85<br />

Mit den „richtigen Leuten“ waren offenbar die sowjetischen Repatriierungsbeamten o<strong>der</strong> ihre<br />

Vertreter gemeint, die ein echtes Interesse an <strong>der</strong> „Wahrheitsfindung“ gehabt hätten, das bei den<br />

Vertretern <strong>der</strong> Westalliierten offenbar weniger ausgeprägt war. So äußert auch <strong>der</strong> Erzähler in<br />

Zavolokins „Aufzeichnungen“, er habe in <strong>der</strong> gesamten Zeit, in <strong>der</strong> Screenings in den UNRRAund<br />

IRO-Lagern durchgeführt wurden, von keinem einzigen Fall <strong>der</strong> Repatriierung unter Zwang<br />

gehört. 86 Sie seien in <strong>der</strong> Regel von westlichen Prüfern durchgeführt worden. In dem Zitat reiht<br />

<strong>der</strong> Befragte, dessen Muttersprache russisch ist, auf die Frage <strong>der</strong> Kommission alle „sicheren“<br />

Staatsbürgerschaften und Herkunftsorte aneinan<strong>der</strong>, das heißt alle außerhalb <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

liegenden Staaten, die nicht unter das Abkommen von Jalta fielen und in denen sich vor dem<br />

Zweiten Weltkrieg Russen aufgehalten hatten. Der Hinweis auf das Ukrainische deutet darauf<br />

hin, dass er vor seiner Deportation o<strong>der</strong> Flucht vermutlich im sowjetischen Teil <strong>der</strong> Ukraine<br />

gelebt hat. Da das „DP-logische Alphabet“ von Irina Saburova bereits 1946 veröffentlicht<br />

wurde, kann davon ausgegangen werden, dass <strong>der</strong> Verbreitungsgrad von <strong>der</strong>artigen Praktiken in<br />

den Lagern hoch war. An<strong>der</strong>nfalls hätte ihr Buch, das sie in den Lagern verkaufte, nicht nur den<br />

Protest ihrer Landsleute auf sich gezogen, son<strong>der</strong>n sie hätte es auch nicht absetzen können. 87<br />

82 Fesenko: Povest’, S. 150; Zitat: Zavolokin: Emigranty, S. 59.<br />

83 Ebd., S. 110.<br />

84 Interview mit Igor Kaczurowskyj am 29. September 2002.<br />

85<br />

Saburova: Dipilogičeskaja azbuka, S. 9.<br />

86<br />

Zavolokin: Emigranty, S. 90.<br />

87<br />

Zur Entstehungsgeschichte des Buches vgl. Ledkovsky, Marina/Rosenthal, Charlotte/Zirin, Mary: Dictionary of<br />

Russian Women Writers, Westport (CT): Greenwood Press, 1994, S. 553–554.

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