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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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62 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />

hörige zurechneten. Sie hatten sowohl in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Repatriierungen als auch beim Resettlement<br />

einerseits Vorteile, weil sie oft über Beziehungen und damit Bezugs- und Orientierungspunkte<br />

im Westen verfügten, die für viele überhaupt <strong>der</strong> Anlass für die Flucht aus <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

gewesen waren. An<strong>der</strong>erseits waren sie aufgrund ihrer demografischen Charakteristika<br />

bei den Einwan<strong>der</strong>ungsbehörden oft weniger begehrt – bei ihnen lag das Durchschnittsalter<br />

insgesamt höher als bei den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen und familiäre<br />

Bindungen und Rücksichten machten sie oft weniger flexibel bei <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung.<br />

Zudem besaßen viele von ihnen Hochschulbildung, was sie in den Augen <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ungsbehörden,<br />

die die einfachen Berufsgruppen bevorzugten, noch einmal unattraktiver machte.<br />

Die zweite konstituierende Phase begann für die <strong>russischen</strong> <strong>DPs</strong> mit dem Trauma ihrer Deportation<br />

o<strong>der</strong> Flucht ins Deutsche Reich. Vor <strong>der</strong> Befreiung durch die Alliierten machten sie hier<br />

unterschiedlichste Erfahrungen, die eng mit ihrer Unterbringungs- und Arbeitssituation sowie<br />

ihrer materiellen Versorgung verbunden waren. Unterschiedlich war auch <strong>der</strong> Umfang o<strong>der</strong><br />

überhaupt die Möglichkeit zu sozialer Interaktion mit Deutschen und innerhalb <strong>der</strong> eigenen<br />

ethnischen Gruppe. In Abhängigkeit von bestehenden o<strong>der</strong> fehlenden sozialen Kontakten zu<br />

Deutschen konnten Sprachkenntnisse entwickelt werden. Im Kontakt mit Landsleuten entstanden<br />

soziale Netzwerke, die später auch für die Frage <strong>der</strong> Repatriierung von Bedeutung waren.<br />

Schließlich war <strong>der</strong> Grad <strong>der</strong> Unterdrückung in <strong>der</strong> jeweiligen individuellen Situation unterschiedlich,<br />

wobei er bei den ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen insgesamt am höchsten<br />

war. Die Deklassierungserfahrung konnte dabei zwei Reaktionen bewirken: bei <strong>der</strong> Mehrheit<br />

den Wunsch, unverzüglich in die Sowjetunion zurückzukehren, bei an<strong>der</strong>en – in Verbindung<br />

mit Gerüchten über eine zu erwartende Strafe in <strong>der</strong> Sowjetunion – Wi<strong>der</strong>stand gegen die entmündigende<br />

und aufoktroyierte Repatriierungsmaßnahme.<br />

War die Entscheidung gegen die Repatriierung einmal getroffen, begann für die in den von den<br />

Westalliierten besetzten Zonen Deutschlands verbliebenen <strong>DPs</strong> eine bis zu mehrere Jahrzehnte<br />

anhaltende Transit- o<strong>der</strong> Wartephase. Bei einigen von ihnen ist diese Phase bis heute juristisch<br />

nicht abgeschlossen; inzwischen hoch betagt leben sie, wie Anastasija Ivanovna, noch immer<br />

als „heimatlose Auslän<strong>der</strong>“ in Deutschland. Solange das Abkommen von Jalta von den Westalliierten<br />

eingehalten wurde, konnte es im besetzten Deutschland keinen legalen Status für die<br />

<strong>russischen</strong> <strong>DPs</strong> geben, denen als Überlebensstrategie nur das Unterlaufen des juristischen Apparates<br />

blieb. Gegen Ende 1946 nahm auf Grund <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten politischen Beziehungen zwischen<br />

<strong>der</strong> Sowjetunion und den Westalliierten die Angst vor <strong>der</strong> erzwungenen Repatriierung<br />

unter den <strong>DPs</strong> ab, wobei gleichzeitig bis 1948 noch kaum Möglichkeiten zur Auswan<strong>der</strong>ung aus<br />

Deutschland in Drittlän<strong>der</strong> bestanden. In seiner berühmten Rede vom 5. März 1946 in Fulton,<br />

Missouri, hatte Churchill erstmals öffentlich das Bild vom „Eisernen Vorhang“ beschworen, <strong>der</strong><br />

von Stettin bis Triest über den europäischen Kontinent nie<strong>der</strong>gegangen sei. In <strong>der</strong> Zeit von 1946<br />

bis 1948 wurden viele DP-Organisationen und Presseorgane gegründet, ältere Organisationen<br />

konsolidierten sich und eine rege Verlagstätigkeit setzte ein. Über die klassische russische<br />

Literatur wurde versucht, Bezüge zur vorrevolutionären <strong>russischen</strong> Kulturgeschichte herzustellen.<br />

Hun<strong>der</strong>te von klassischen literarischen Werken wurden in eigenen DP-Ausgaben herausgebracht<br />

und in Lagerbibliotheken einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht. Es gab Puschkin-Gedenktage<br />

und Ehrungen an<strong>der</strong>er russischer Dichter, die neben religiösen Festtagen in DP-<br />

Kalen<strong>der</strong>n des Posev-Verlages o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Scouts verzeichnet waren.<br />

Das Lager mit seinen Bildungseinrichtungen und Organisationen bildete für die Zeit des Wartens<br />

nicht nur einen geschützten Wohnraum für seine Bewohner und ein kulturelles und religiöses<br />

Zentrum für viele „out-of-camp refugees“, es wurde auch als Arbeitgeber an<strong>der</strong>en Beschäftigungsorten<br />

vorgezogen. Diese Entwicklung des Lagers zur ethno- und soziokulturellen Nische<br />

war nicht nur für die russische, son<strong>der</strong>n für alle DP-Gruppen kennzeichnend. Durch die Konsolidierung<br />

von Lagergemeinden <strong>der</strong> Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland entstanden<br />

relativ tragfähige soziale Netzwerke, die eine wichtige Rolle für die Etablierung eines <strong>russischen</strong><br />

Schulsystems, aber auch bei den Auswan<strong>der</strong>ungen von Gemeindemitglie<strong>der</strong>n aus den

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