„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
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Vorerfahrungen in <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
„Stiller als Wasser, tiefer als Gras“ 25<br />
Während sich die Gründe für die Rückkehrverweigerung bei den Flüchtlingen, den Kollaborateuren<br />
und den „alten Emigranten“ weitgehend aus ihrer Ablehnung des politischen Systems <strong>der</strong><br />
Sowjetunion ergaben, sind diese für die unter Zwang ins Deutsche Reich Verschleppten schwieriger<br />
zu rekonstruieren. Nach dem Ende <strong>der</strong> Kriegshandlungen in Europa kehrten Millionen<br />
ehemaliger ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangener bis Ende 1945 freiwillig in die Sowjetunion<br />
zurück. Aus den im Rahmen dieser Arbeit geführten drei Gesprächen mit ehemaligen<br />
Zwangsarbeiterinnen, die in Deutschland geblieben sind, ging hervor, dass die Gründe für die<br />
Repatriierungsverweigerung bei ihnen in nur einem Fall partiell in ihren Vorerfahrungen in <strong>der</strong><br />
UdSSR zu suchen waren. Von <strong>der</strong> Angst vor Repressionen berichtete nur Anastasija Ivanovna,<br />
<strong>der</strong>en Mutter als Apothekerin vor <strong>der</strong> Revolution einen Angestellten gehabt hatte und damit<br />
nach sowjetischer Diktion als „Klassenfeind“ in die Kategorie jener sozialen, politischen und<br />
ökonomischen Schichten gehörte, die eng mit dem Ancien régime verbunden waren und seit<br />
den Oktoberereignissen 1917 als byvšie ljudi (übersetzt etwa „Menschen <strong>der</strong> Vergangenheit“)<br />
bezeichnet wurden. In einem 1993 veröffentlichten Aufsatz erfasst Lynne Viola unter dieser<br />
Kategorie von sowjetischen Klassenfeinden folgende Gruppen: adlige Landbesitzer; Priester;<br />
Kirchenälteste; Mitglie<strong>der</strong> religiöser Sekten; Großgrundbesitzer; echte „Kulaken“ (im Sinne von<br />
tatsächlich wohlhabenden Bauern); Bauern, die während <strong>der</strong> Stolypin’schen Landreform eigenes<br />
Land erhalten hatten; Fabrikbesitzer; Kaufleute; Händler; bestimmte Kategorien von ländlichen<br />
Heimarbeitern; zaristische Offiziere; Kosakenatamane; vorrevolutionäre Polizisten; Gutsverwalter<br />
und Dorfälteste. Der Begriff war äußerst dehnbar; auch ehemalige Soldaten <strong>der</strong> Weißen<br />
Armee und Mitglie<strong>der</strong> von politischen Parteien, beson<strong>der</strong>s Sozialrevolutionäre, waren mit<br />
eingeschlossen. 56 Die Familie von Anastasija floh in den dreißiger Jahren von Smolensk nach<br />
Jalta und nahm als Familiennamen den Mädchennamen <strong>der</strong> Mutter an. Dem Kind wurde verboten,<br />
jemals über die Familie zu sprechen. Der Besuch von Schulfreundinnen rief bei <strong>der</strong> sehr<br />
religiösen Mutter Angstzustände hervor, da sie in <strong>der</strong> Wohnung einen kleinen russischorthodoxen<br />
Hausaltar besaß. Zudem war ein Onkel von Anastasija nach dem Bürgerkrieg nach<br />
Deutschland geflohen, so dass die Familie durch die Verbindung mit einem Emigranten ohnehin<br />
Repressionen erwartete und den Kontakt zu ihm abbrach. 57<br />
Zur Gruppe <strong>der</strong> ehemaligen Zwangsarbeiterinnen ist auch Tat’jana Fesenko zu zählen, die 1944<br />
in ein schlesisches Zwangsarbeitslager deportiert wurde. In ihren Erinnerungen nehmen kollektive<br />
Repressionserfahrungen, wie zum Beispiel die Entkulakisierungskampagne von 1929 bis<br />
1934, die zwangsweise Einführung <strong>der</strong> Kolchosen in <strong>der</strong>selben Zeit o<strong>der</strong> die künstlich erzeugte<br />
Hungersnot in <strong>der</strong> Ukraine 1932 breiten Raum ein. 58 Nicht nur die in Kiew durchlebten o<strong>der</strong><br />
beobachteten kollektiven Repressionen hin<strong>der</strong>ten sie an <strong>der</strong> Rückkehr in ihre Heimatstadt nach<br />
dem Krieg, son<strong>der</strong>n vor allem die Verfolgung von persönlichen Freunden und Angehörigen, die<br />
„schrecklichen Nächte 1937–38, als dunkle Autos vor fast je<strong>der</strong> Tür hielten“, 59 schließlich die<br />
Verhaftung ihres Vaters vor dem Einmarsch <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht in Kiew Anfang Juli<br />
1941. Da er vor <strong>der</strong> Revolution in Deutschland studiert hatte und deutsch sprach, galt er als<br />
potenzieller Kollaborateur. Tat’jana Fesenko und ihre Familie hörten danach nie wie<strong>der</strong> von<br />
ihm. 60 Für Menschen, die vor ihrer Verschleppung ins Deutsche Reich bereits direkt o<strong>der</strong> indi-<br />
56<br />
Viola, Lynne: The Second Coming: Class Enemies in the Soviet Countryside, 1927–1935, in: Getty, Arch<br />
J./Manning, Roberta T. (Hg.): Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge (Mass.): Cambridge UP, 1993, S. 65–<br />
98, hier S. 70.<br />
57<br />
Interview mit Anastasija Ivanovna am 2. Oktober 2002.<br />
58<br />
Fesenko: Povest’ krivych let, S. 44–50.<br />
59<br />
Ebd., S. 65. Fesenko spielt damit an auf die nächtlichen Verhaftungsaktionen des NKVD, als auf einem <strong>der</strong><br />
Höhepunkte des stalinistischen „Großen Terrors” (R. Conquest) 1937–1938 Hun<strong>der</strong>ttausende von Menschen nachts<br />
in ihren Wohnungen verhaftet wurden. Zum Symbol dieses Terrors wurde <strong>der</strong> schwarze „Wolga“, eine sowjetische<br />
Automarke, die vom NKVD benutzt wurde.<br />
60<br />
Fesenko: Povest’ krivych let, S. 64–66.