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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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„Stiller als Wasser, tiefer als Gras“ 55<br />

wir we<strong>der</strong> hierhin noch dorthin fuhren. Mich haben sie dorthin zugelassen. […] In Kanada,<br />

sagten sie – ich weiß nicht, ob das stimmt – dort gab es Sozialhilfe. Wie auch in Australien.<br />

Australien war etwas für mich […] 166<br />

Galina Konstantinovna hat nie Sozialhilfe bezogen, jedoch sind ihre Motive nachvollziehbar:<br />

Nach <strong>der</strong> Erfahrung sehr eingeschränkter Arbeitsmöglichkeiten im Nachkriegsdeutschland<br />

konnte sie kaum abschätzen, wie ihre Situation in einer vollkommen neuen Umgebung sein<br />

würde. Für Anastasija Ivanovna und ihren Mann waren von Anfang an die USA das einzig<br />

vorstellbare Auswan<strong>der</strong>ungsland, da dort ein Bru<strong>der</strong> ihres Mannes lebte und sie die Hoffnung<br />

noch nicht aufgegeben hatte, ihren nach <strong>der</strong> Revolution aus Russland emigrierten Onkel dort zu<br />

finden. Doch wurde ihr Mann mehrmals von <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ung zurückgestellt, weil er einst an<br />

Tuberkulose erkrankt war. Das Paar gab daraufhin seine Amerikapläne auf und ließ sich in <strong>der</strong><br />

Nähe von München nie<strong>der</strong>. Aus den Interviews ging insgesamt hervor, dass Emigrationswünsche<br />

in <strong>der</strong> Regel dann realisiert wurden, wenn alle Familienmitglie<strong>der</strong> in einem Land Aufnahme<br />

fanden. Alle ehemaligen <strong>DPs</strong>, mit denen ich im Rahmen dieser Arbeit gesprochen habe, sind<br />

wegen Familienangehöriger, die aus unterschiedlichen Gründen von den Einwan<strong>der</strong>ungsbehörden<br />

abgelehnt worden waren, in Deutschland geblieben. Nur Viktor Diomidovič und Tatiana<br />

Stepanovna hatten nie den Wunsch zu emigrieren, und obwohl <strong>der</strong> Erhalt <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Staatsbürgerschaft 1985 für sie von großer Bedeutung war, leben sie bis heute in München.<br />

Briefe aus Amerika<br />

Mit dem Fortschreiten <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ungen von Displaced Persons in Drittlän<strong>der</strong> kam eine<br />

neue Informationsquelle für die noch in Deutschland lebenden <strong>russischen</strong> <strong>DPs</strong> hinzu. Zu den<br />

Nachrichten, die sie über das Leben in den potenziellen Aufnahmelän<strong>der</strong>n erhielten, gehörten<br />

nun neben Zeitungs- und Radioberichten, Informationsbroschüren und natürlich Gerüchten – die<br />

sich dem „DP-logischen Alphabet“ zufolge in Lichtgeschwindigkeit verbreiteten 167 – die Erfahrungen<br />

bereits Ausgewan<strong>der</strong>ter, die ihnen schrieben. 168 Zwar schickten nicht alle aus Deutschland<br />

emigrierten <strong>DPs</strong> Lebenszeichen zurück in die Lager, in denen sie übergangsweise gelebt<br />

hatten. Kathryn Hulme, eine UNRRA- und IRO-Mitarbeiterin, vermerkt in ihren autobiografischen<br />

Aufzeichnungen „The Wild Place“ über das Lager Wildflecken enttäuscht, dass viele<br />

ehemalige <strong>DPs</strong> offenbar die Zeit in Deutschland zu vergessen suchten und deshalb ihr Versprechen,<br />

zu schreiben, nicht hielten. 169 Doch hat Tat’jana Fesenko in ihrer „Erzählung verzerrter<br />

Jahre“ zahlreiche, an die <strong>DPs</strong> des Münchener Lagers Warner Kaserne gerichtete Briefe aus den<br />

Vereinigten Staaten zitiert, die einen Eindruck vermitteln von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Informationen, welche<br />

die noch in Deutschland befindlichen <strong>DPs</strong> erreichten, indem sie öffentlich verlesen o<strong>der</strong> von<br />

Hand zu Hand weiter gereicht wurden. Zwiespältig und ambivalent wirken die Berichte <strong>der</strong><br />

Neuankömmlinge an die Schicksalsgenossen ihrer „Lagerheimat“, hin und her gerissen zwischen<br />

Bewun<strong>der</strong>ung, Befremden und <strong>der</strong> „Sehnsucht nach Europa“:<br />

Die Sehnsucht nach Europa verflüchtigt sich nicht, Amerika ist nichts für mich. Wir sind<br />

einan<strong>der</strong> fremd und ich fürchte, wir passen nicht zusammen. Ich bin schon zu alt, um<br />

mich zu verän<strong>der</strong>n, und in ihrem [Amerikas, A.K.] Alter ist das auch nicht einfach, im<br />

Resultat heißt das, dass es beim gegenseitigen Befremden bleibt. 170<br />

166 Interview mit Galina Konstantinovna am 30. September 2002.<br />

167 Unter dem Buchstaben S findet sich <strong>der</strong> Vermerk: „Kleines S – Sluchi [Gerüchte]. Den größten Zuspruch haben<br />

Panik- und Beerdigungsmeldungen. Sie verbreiten sich mit Lichtgeschwindigkeit (300.000 km in <strong>der</strong> Sekunde)“, vgl.<br />

Saburova: Dipilogičeskaja azbuka, S. 10.<br />

168 Speziell für die Auswan<strong>der</strong>ung in die USA gab es außerdem ein Orientierungsprogramm <strong>der</strong> DP-Commission mit<br />

Filmen, Vorträgen, Orientierungskursen zur Geschichte, Geografie und zu den Gebräuchen und Traditionen in den<br />

Vereinigten Staaten, vgl. Holborn: International Refugee Organization, S. 302–303.<br />

169 Hulme, Kathryn: The Wild Place, London: Pan Books, 1959, S. 199.<br />

170 Fesenko: Povest’ krivych let, S. 201.

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