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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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36 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />

Polen und Russen abzutransportieren; Polizeieinheiten hätten flüchtige Personen zu suchen und<br />

aufzugreifen. Die Ortsbürgermeister im Kreis Coesfeld erhielten noch im August 1945 eine<br />

Anweisung <strong>der</strong> Militärregierung, dass keine Russen mehr bei Zivilisten beschäftigt werden o<strong>der</strong><br />

bei ihnen Unterkunft und Verpflegung finden durften. 94 Trotz dieser Bestimmungen lebte auch<br />

nach dem Ende <strong>der</strong> Erntezeit noch eine halbe Million <strong>DPs</strong> bei den Bauern, vor allem in<br />

Deutschland. 95<br />

Aleksej Nekljudov war nicht als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich gebracht worden, doch<br />

gelang es ihm, mit Hilfe von Verwandten eine längerfristige Unterbringung in einem DP-Lager<br />

zu vermeiden. Im Januar 1943 war er mit seiner Familie aus Taganrog nach Österreich geflohen.<br />

In <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> österreichisch-deutschen Grenze lebte er zunächst in einem Lager für die Mitarbeiter<br />

seiner letzten Arbeitsstelle, <strong>der</strong> Wiener-Neustädter Flugzeugwerke, in dem sich auch viele<br />

<strong>DPs</strong> aufhielten. Er hatte in Göttingen (britische Zone) eine Schwester, die seit 1944 die deutsche<br />

Staatsangehörigkeit besaß. Er beschloss, das österreichische Lager zu verlassen und sich nach<br />

Göttingen durchzuschlagen. Das Denken und die Argumentationsweise Nekljudovs spiegelt<br />

einerseits die Bevorzugung <strong>der</strong> amerikanisch und britisch besetzten Zonen Deutschlands durch<br />

viele russische <strong>DPs</strong>, an<strong>der</strong>erseits weist es auf die Bedeutung von verlässlichen sozialen bzw.<br />

familiären Kontakten als Orientierungspunkt hin:<br />

Obwohl es von Seiten <strong>der</strong> Westalliierten dieses Unverständnis gab über die Gründe für<br />

den Wi<strong>der</strong>willen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Flüchtlinge gegen ihre Heimkehr, hielten wir es doch für<br />

ungefährlicher, uns auf amerikanischem o<strong>der</strong> britischem Territorium aufzuhalten. Nur<br />

wäre es nötig, möglichst nicht aufzufallen. Wir dachten, dass das Territorium Deutschlands<br />

am längsten von den alliierten Truppen okkupiert sein würde und deshalb musste<br />

man auf irgendeine Weise auf das deutsche Territorium hinüber gelangen. […] Wir wussten,<br />

dass Mama und Tanja mit ihrer Familie bis zum Ende des Krieges in Göttingen waren,<br />

aber ob sie [noch] dort waren, ob sie die Luftangriffe überlebt hatten, wussten wir<br />

nicht. 96<br />

Ohne offizielle Genehmigung zum Verlassen Österreichs o<strong>der</strong> des Lagers erreichte Nekljudov<br />

mit seiner vierjährigen Tochter Olga, seiner Frau und <strong>der</strong>en Mutter am 21. August 1945 Göttingen.<br />

Dort fand er neben seiner Mutter, seiner Schwester Tanja und <strong>der</strong>en Familie auch seinen<br />

fünfzehn Jahre älterer Bru<strong>der</strong> Vasilij, <strong>der</strong> als Offizier <strong>der</strong> Weißen Armee 1921 nach Jugoslawien<br />

geflohen war. Als erstes musste die Frage <strong>der</strong> Unterkunft geklärt werden. Ein Unterkommen im<br />

Lager wurde sehr bald verworfen: „In den Lagern wurden ständig irgendwelche Überprüfungen<br />

durchgeführt, Listen angefertigt und niemand wusste wozu und alle lebten in ständiger Angst.“<br />

Welche Bedeutung und welche Konsequenzen diese Entscheidung in <strong>der</strong> Praxis hatte, erläutert<br />

Nekljudov in seinen Erinnerungen folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

Nach unserer Ankunft in Göttingen war die wichtigste Frage, ein Aufenthaltsrecht und<br />

Bezugsscheine für Nahrungsmittel zu erhalten. Wir hatten Angst, in ein Lager zu gehen.<br />

[…] In Göttingen gab es mehrere Lager für Displaced Persons unterschiedlicher Nationalität.<br />

Aber es gab nicht ein einziges russisches. Es gab ukrainische, polnische, baltische,<br />

und an<strong>der</strong>e. Ein russisches Lager konnte es schon deshalb nicht geben, weil die Bezeichnung<br />

„Russe“ sofort <strong>der</strong> Sowjetischen Repatriierungsmission das Recht gegeben<br />

hätte, von den Englän<strong>der</strong>n die Auslieferung ihrer Bürger zu for<strong>der</strong>n und sie schnell über<br />

die Grenze in ihre Zone zu bringen. […] Wir beschlossen, dass es am ungefährlichsten<br />

94 Bekanntmachung des Amtsbürgermeisters von Rorup vom 6. 5. 1945, Stadtarchiv Dülmen, Bestand Gemeinde<br />

Bul<strong>der</strong>n, B 343, im Internet unter: http://www.kreis-coesfeld.de/37_0031.htm#Stadtarchiv%20Dülmen; Schreiben<br />

des Landrats von Coesfeld an Ortspolizeibehörden vom 1. 6. 1945, ebd.; Schreiben des Landrats von Coesfeld an<br />

Bürgermeister vom 10. 8. 1945, Stadtarchiv Dülmen, Bestand Gemeinde Bul<strong>der</strong>n, B 287, ebd.<br />

95 Holborn: International Refugee Organization, S. 195. Die Zahl bezieht sich auf Deutschland, Österreich, Italien<br />

und China, wobei <strong>der</strong> größte Teil in Deutschland lebte.<br />

96 Nekljudov: Kak my ušli, S. 69.

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