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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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34 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />

Für den Fall <strong>der</strong> Überprüfung von Aussagen sicherten sich die <strong>DPs</strong> dadurch, dass sie für ihre<br />

angenommene Identität bei Bekannten Erkundigungen einzogen, die aus den angeblichen Geburts-<br />

o<strong>der</strong> Aufenthaltsorten kamen und ihnen Einzelheiten zu diesen Orten sagen konnten.<br />

Davon berichtet u.a. E. Romanov, einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> des NTS-Lagers Mönchehof, in dem eine<br />

große Zahl von ehemaligen Anhängern <strong>der</strong> Russischen Befreiungsarmee (ROA) und Mitglie<strong>der</strong>n<br />

von NTS unterkam, die mit den Deutschen kollaboriert hatten. 88 Doch wurden auch in<br />

allen an<strong>der</strong>en Lagern, in denen <strong>DPs</strong> aus <strong>der</strong> Sowjetunion lebten, mehr o<strong>der</strong> weniger offene<br />

Diskussionen darüber geführt, welche Staatsbürgerschaften sich in den screenings „bewährt“<br />

hatten, und es gab eine ausreichende Zahl „alter“ Emigranten und an<strong>der</strong>er, die mit den nötigen<br />

Informationen aushalfen. So berichtet Zavolokin weiter:<br />

Unsere Moskauer Freunde [d.h. die Protagonisten des Romans, A.K.], die nicht beson<strong>der</strong>s<br />

auf ihre galizischen Dokumente vertrauten, beschlossen, im Voraus noch an<strong>der</strong>e<br />

vorzubereiten … rumänische. Warum rumänische […]? Deswegen, weil an Rumänien<br />

nach dem Ersten Weltkrieg die große Provinz Bessarabien übergegangen war – ein früherer<br />

Teil Russlands, in dem wohl über die Hälfte [<strong>der</strong> Bevölkerung, A.K.] Russen waren,<br />

die unter den Rumänen ihre Sprache, Gymnasien und sogar ihren Alltag aufrecht erhalten<br />

hatten. Und zufällig befand sich hier in <strong>der</strong>selben Baracke, in <strong>der</strong> unsere Moskauer<br />

lebten, eine intelligente Dame aus Kischinew (<strong>der</strong> wichtigsten Stadt in Bessarabien),<br />

wo sie über zwanzig Jahre gelebt hatte, die ihnen ein paar Lektionen über Kischinew und<br />

seine Ordnung unter rumänischer Verwaltung gab. In Schleißheim fanden sich noch an<strong>der</strong>e<br />

Russen aus Bessarabien, bei denen über irgendwelche Wege Stempelpapier (mit rumänischen<br />

Wasserzeichen) auftauchten, auf denen sie für die ganze Familie unserer<br />

Flüchtlinge wun<strong>der</strong>bare Dokumente anfertigten, auf rumänisch getippt, mit Stempel und<br />

Unterschrift <strong>der</strong> Stadtverwaltung von Kischinew. Als Meldeadresse in Kischinew war die<br />

jener Dame angegeben, so dass letztere sogar als Zeugin auftreten konnte. 89<br />

War anfänglich die Vermeidung <strong>der</strong> Repatriierung das Ziel von Fälschungen, so scheint später<br />

eine Art Gewöhnungseffekt eingetreten zu sein, <strong>der</strong> mitunter dazu führte, dass auch in weniger<br />

existenziellen Fällen kleinere „Korrekturen“ in den Biografien angebracht wurden. Was etwa<br />

für die aus Odessa nach Westen geflohene Familie von Viktor Diomidovič als Überlebensstrategie<br />

begann, als sie in Bayern angab, aus dem rumänischen Ort Liebling zu stammen (sie hatte<br />

dort auf <strong>der</strong> Flucht ein paar Monate verbracht und konnte somit auf Nachfragen antworten),<br />

setzte sich bei Viktor Diomidovič <strong>der</strong>gestalt fort, dass er sein Geburtsdatum um drei Jahre<br />

vorverlegte, um früher die Abiturprüfungen ablegen und studieren zu können. Im Juli 1951 –<br />

nach Abschluss des Studiums – korrigierte er sich in einer eidesstattlichen Erklärung vor dem<br />

Legal Counsellor <strong>der</strong> IRO in München zurück auf sein wirkliches Geburtsjahr und gab nun auch<br />

seinen wirklichen Geburtsort und Wohnsitz von 1939 an. In seinem Abiturzeugnis des Schleißheimer<br />

DP-Gymnasiums sind die nachträglichen Verbesserungen heute noch zu sehen. Doch<br />

nahmen nicht alle <strong>DPs</strong> die Gelegenheit einer solchen eidesstattlichen Erklärung wahr und gaben<br />

ihre wirkliche Identität preis. Viktor Diomidovič berichtete von Fällen, in denen ehemalige <strong>DPs</strong><br />

bis weit über das Rentenalter hinaus arbeiten mussten, weil sie sich nach dem Krieg um zehn<br />

o<strong>der</strong> mehr Jahre „verjüngt“ hatten, um zum Beispiel emigrieren zu können. 90 Viele <strong>DPs</strong> bedienten<br />

sich schließlich <strong>der</strong> Fälschung nicht nur, um <strong>der</strong> Repatriierung zu entgehen o<strong>der</strong> den Einreisebestimmungen<br />

von Aufnahmelän<strong>der</strong>n zum Beispiel in Bezug auf das Alter gerecht zu werden,<br />

son<strong>der</strong>n noch über ihre Auswan<strong>der</strong>ung aus Deutschland hinaus.<br />

Die Unsicherheit, die diese Praktiken bei den Menschen langfristig hinterließen, ist bis heute<br />

spürbar. So sprach in unserem Interview Galina Konstantinovna von ihrem ersten Mann als<br />

88<br />

Romanov, Evgenij [Ostrovskij]: V bor’be za Rossiju. Vospominanija [Im Kampf für Russland. Erinnerungen],<br />

Moskau: Golos, 1999, S. 96.<br />

89<br />

Zavolokin: Emigranty, S. 110.<br />

90 Interview mit Viktor Diomidovič am 3. Oktober 2002.

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