„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
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26 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />
rekt Opfer des stalinistischen Terrors geworden waren, musste die Vorstellung, in die Sowjetunion<br />
zurückzukehren, geradezu absurd erscheinen. Während <strong>der</strong> Nationalsozialismus als<br />
Staatsform mit dem 8. Mai 1945 endgültig besiegt war und kein Zweifel bestehen konnte, dass<br />
er in absehbarer Zeit nicht wie<strong>der</strong> aufleben würde, ging die Sowjetunion und damit <strong>der</strong> Stalinismus<br />
siegreich und stärker denn je aus dem Weltkrieg hervor. Auf diesem Hintergrund konnte<br />
die Rückkehr in die Sowjetunion nicht im Interesse von Menschen liegen, die sich zu den potenziellen<br />
Opfern <strong>der</strong> stalinistischen Repressionen zählten.<br />
„… und du kommst sowieso nicht nach Hause“<br />
Anfang <strong>der</strong> neunziger Jahre erreichte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial eine<br />
Flut von etwa 400.000 Briefen ehemaliger sowjetischer ZwangsarbeiterInnen, die über ihre<br />
Verschleppung in das Deutsche Reich, die Zwangsarbeit, die Umstände und Lebensbedingungen<br />
sowie über ihre Befreiung und Repatriierung berichteten. Die VerfasserInnen <strong>der</strong> Briefe<br />
reagierten damit auf einen Zeitungsartikel, in dem fälschlicherweise behauptet wurde, die Grünenfraktion<br />
habe im deutschen Bundestag die finanzielle Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter<br />
durchgesetzt. In einer exemplarischen Auswertung von 500 dieser Briefe beschreibt<br />
Ulrike Goeken unter an<strong>der</strong>em die Erinnerungen <strong>der</strong> Briefschreiber an „zwiespältige Empfindungen“<br />
beim Herannahen <strong>der</strong> Roten Armee, die in jedem dritten <strong>der</strong> von ihr untersuchten<br />
Briefe zum Ausdruck kamen. In zwei Fällen erinnerten sich Schreiber an die gleiche, unter den<br />
<strong>DPs</strong> kursierende Geschichte von einem Vater, <strong>der</strong> als Befreier <strong>der</strong> Roten Armee seine Tochter<br />
auf befreitem Territorium angetroffen und diese unverzüglich als Verräterin erschossen habe.<br />
Zu den Gerüchten über die Behandlung von Befreiten durch Rotarmisten unter den ehemaligen<br />
ZwangsarbeiterInnen trugen auch Deutsche, Amerikaner und an<strong>der</strong>e bei. In <strong>der</strong> genannten<br />
Untersuchung von Ulrike Goeken wird eine Frau zitiert, <strong>der</strong> ein polnischer Kapo mehrfach<br />
gedroht habe, die sowjetischen Soldaten würden sie als Strafe für ihre Arbeit bei den Deutschen<br />
quälen und foltern. 61 In einer Studie über lebensgeschichtlichen Erinnerungen von ehemaligen<br />
sowjetischen Zwangsarbeiterinnen zitiert Tamara Frankenberger aus dem Brief einer Frau,<br />
<strong>der</strong>en Chef ihr Repressionen voraussagte: „… er prophezeite mir, wie meine Zukunft in <strong>der</strong><br />
UdSSR sein würde – er sagte, daß Stalin mich nach Sibirien schicken würde.“ 62 Offenbar war<br />
allen <strong>DPs</strong> auch die offizielle sowjetische Haltung gegenüber in Gefangenschaft geratenen o<strong>der</strong><br />
in deutschen Kesseln eingeschlossenen Soldaten <strong>der</strong> Roten Armee bekannt. 63 Sie wussten, dass<br />
<strong>der</strong> Kollaborationsverdacht grundsätzlich auf allen Rückkehrern lag, da – so die sowjetische<br />
Argumentation – im Deutschen Reich nur Kollaborateure überhaupt hätten überleben können. 64<br />
Wer nicht informiert war, wurde relativ schnell von an<strong>der</strong>en <strong>DPs</strong> aufgeklärt, wie Anastasija<br />
Ivanovna, die ihre Entscheidung zur Rückkehr in die Sowjetunion erst aufgab, als ihr späterer<br />
Mann prophezeite, man werde sie dort nur wie<strong>der</strong> in ein Lager schicken. Es sei natürlich ihre<br />
Entscheidung, jedoch:<br />
Da du schon im Ausland bist – da war ja noch Stalin! – […] man wird dir das als Vergehen<br />
anrechnen und du kommst sowieso nicht nach Hause, und so bin ich dann in<br />
Deutschland geblieben, habe meinen Mann geheiratet. 65<br />
61 Goeken: Die sowjetischen Zwangsarbeiter, S. 90, 95.<br />
62 Frankenberger, Tamara: Wir waren wie Vieh. Lebensgeschichtliche Erinnerungen ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiterinnen,<br />
Münster: Westfälisches Dampfboot, 1997, S. 78.<br />
63 So zum Beispiel bei Goeken: Die sowjetischen Zwangsarbeiter, S. 95. Zu <strong>der</strong> Arbeit von Ulrike Goeken siehe<br />
weiter unten in diesem Abschnitt. Zur Haltung <strong>der</strong> sowjetischen Führung gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen<br />
vgl. das Kapitel „Flüchtlinge“.<br />
64 Vgl. Ioncev, V. A. / Lebedeva, N. M. / Nazarov, M.V. / Okorokov, A. V.: Emigracija i repatriacija v Rossii,<br />
Moskau: Popečitel’stvo o nuždach rossijskich repatriantov [Emigration und Repatriierung in Russland], 2001, S. 63.<br />
65 Interview mit Anastasija Ivanovna am 2. Oktober 2002.