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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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„Stiller als Wasser, tiefer als Gras“ 61<br />

Resümee: DP-Geschichte als Migrationsgeschichte<br />

Als theoretische Konzeption für die Geschichte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Displaced Persons wurde ein<br />

migrationswissenschaftliches Modell gewählt, das davon ausgeht, dass Migrationen immer das<br />

Resultat sowohl von äußeren Bedingungen als auch von individuellen Entscheidungen sind. Der<br />

Grad <strong>der</strong> „Freiwilligkeit“ dieser Entscheidungen ist we<strong>der</strong> bei politisch noch bei ökonomisch<br />

motivierten Migrationen absolut zu bewerten, da er sich nicht nur aus objektiven Faktoren<br />

ableiten lässt, son<strong>der</strong>n gleichzeitig subjektive Züge aufweist. Hieraus ergibt sich für die <strong>russischen</strong><br />

<strong>DPs</strong> ein komplexes Bild unterschiedlichster individueller und kollektiver Disponierungen,<br />

Motivationen und Zielsetzungen. Diese sind nicht nur auf die Bedingungen ihrer Sozialisation<br />

in Sowjet-Russland bzw. bei den Revolutions- und Bürgerkriegsflüchtlingen in ihrem ersten<br />

Exil zurückzuführen, son<strong>der</strong>n auch auf die <strong>Genese</strong> ihres <strong>„displacement“</strong>. Setzt man den Beginn<br />

von Migration dort an, wo sich ein Individuum o<strong>der</strong> eine Gruppe auf dem Hintergrund seines<br />

o<strong>der</strong> ihres Erfahrungshorizontes bewusst für die Migration entscheidet, so kann bei den <strong>russischen</strong><br />

Displaced Persons, die in <strong>der</strong> Regel unfreiwillig durch Zwangsdeportation o<strong>der</strong> auch<br />

Flucht ins Deutsche Reich kamen, von Migration im eigentlichen Sinne erst nach <strong>der</strong> Befreiung<br />

gesprochen werden. Ihre Entscheidung, aus <strong>der</strong> Sowjetunion zu emigrieren, manifestierte sich<br />

nach Kriegsende quasi erst post festum. Damit sind für sie zwei (statt wie im klassischen Migrationsmodell<br />

einer) vor dem Beginn des eigentlichen Migrationsprozesses liegende konstituierende<br />

Phasen unterscheidbar, die ihr späteres Verhalten beeinflussten: In <strong>der</strong> ersten Phase haben<br />

sie in ihren Herkunftslän<strong>der</strong>n eine erste Sozialisation durchlaufen, die zweite umfasst ihre Zeit<br />

im Deutschen Reich bzw. den von den deutschen besetzten Gebieten bis zum Ende des Krieges.<br />

Die Vorerfahrungen und Disponierungen, die die späteren <strong>DPs</strong> aus <strong>der</strong> Sowjetunion mitbrachten,<br />

lassen sich in Form von Berufszugehörigkeit, Bildungsabschlüssen und Zugehörigkeit zu<br />

sozialen Schichten beschreiben. Für die allgemeine soziale Stratifizierung <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Bevölkerung können drei soziale Kategorien unterschieden werden, die Einfluss auf die späteren<br />

Möglichkeiten von <strong>DPs</strong> hinsichtlich <strong>der</strong> Repatriierung und Umsiedlung in Drittlän<strong>der</strong> hatten:<br />

Nach <strong>der</strong> offiziellen sowjetischen Ideologie gab es zunächst die Großgruppe <strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Bauern, aus <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong> ins Deutsche Reich verschleppten ZwangsarbeiterInnen<br />

rekrutierte. Sie waren im nationalsozialistischen Deutschland begehrt, weil sie<br />

harte Arbeit leisten und flexibel eingesetzt werden konnten. Es gibt zu denken, dass es eben<br />

diese Charakteristika waren, die sie später auch für die Einwan<strong>der</strong>ungsbehörden attraktiv machten.<br />

Als Vertreter des „ideologischen Überbaus“ standen über ihnen die Kommunistische Partei<br />

und ihre Funktionäre, denen als „Ingenieure <strong>der</strong> menschlichen Seelen” seit den dreißiger Jahren<br />

die Künstler und als ein „neuer Typus administrieren<strong>der</strong> Intelligenz“ die Wissenschaftler zugeschlagen<br />

wurden. Sowohl die Künstler als auch die Wissenschaftler wurden so offiziell auf die<br />

parteipolitische Linie verpflichtet. 189 Auf diese Verflechtung mit den tragenden Institutionen<br />

und Dogmen des sowjetischen Kommunismus bezog sich später die Ablehnung <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Bildungsschichten durch die Einwan<strong>der</strong>ungsbehörden, als die Auswan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>DPs</strong> aus<br />

Deutschland in Drittlän<strong>der</strong> begann. Die Chancen <strong>der</strong> zu dieser Gruppe gehörenden Personen bei<br />

<strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung waren geringer als die an<strong>der</strong>er sowjetischer DP-Gruppen, sofern sie nicht<br />

über einflussreiche Kontakte verfügten. Eine dritte Gruppe russischer <strong>DPs</strong> aus <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

bildete die alte Intelligenzija, soweit sie im Zuge <strong>der</strong> Oktoberereignisse von 1917 und des<br />

anschließenden Bürgerkrieges nicht bereits ausgewan<strong>der</strong>t war. Insbeson<strong>der</strong>e in den dreißiger<br />

Jahren war die Intelligenzija bei den großen „Säuberungen“ stark repressiert und dezimiert<br />

worden. Viele hatten sich, selbst wenn sie die Revolution vor mehr als zwei Jahrzehnten begrüßt<br />

hatten, inzwischen von <strong>der</strong> offiziellen Politik abgewandt. Beson<strong>der</strong>s unter den sowjetischen<br />

Flüchtlingen waren viele, die sich dieser letzten Gruppe direkt o<strong>der</strong> indirekt durch Ange-<br />

189 Vgl. Beyrau, Dietrich: Intelligenz und Dissens. Die <strong>russischen</strong> Bildungsschichten in <strong>der</strong> Sowjetunion 1917 bis<br />

1985, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, S. 73.

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