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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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54 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />

Auswan<strong>der</strong>ungsmotive von <strong>DPs</strong><br />

Die wichtigsten Motive für die Auswan<strong>der</strong>ung von Displaced Persons in Drittlän<strong>der</strong> lagen zum<br />

einen in ihren Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich, zum an<strong>der</strong>en im Mangel<br />

an beruflichen Perspektiven in Deutschland. Es ist kaum zu erwarten, dass sie Sinn darin sahen,<br />

sich für den Aufbau eines Landes, in dem viele von ihnen über Jahre ausgebeutet und erniedrigt<br />

worden waren, beson<strong>der</strong>s zu engagieren. Darüber hinaus fühlte man sich <strong>der</strong> Sowjetunion in<br />

Deutschland noch zu nahe. Gerüchte kursierten, dass sowjetische <strong>DPs</strong> auf <strong>der</strong> Straße eingefangen<br />

und über die Grenze in die sowjetisch besetzte Zone gebracht würden. Hinzu kam die<br />

Angst, dass es in Europa erneut zum Krieg kommen könnte und dass man sich dann im unmittelbaren<br />

Zentrum <strong>der</strong> Kriegshandlungen befände. Der zunehmend als unbefriedigend empfundene<br />

Aufenthalt im Lager war dabei Voraussetzung für die bevorzugte Vermittlung von <strong>DPs</strong> in<br />

Drittlän<strong>der</strong>, die in <strong>der</strong> Praxis jedoch oft Jahre auf sich warten ließ. Die im Nachkriegsdeutschland<br />

zur Disposition stehenden Arbeitsplätze außerhalb <strong>der</strong> Lager waren wenig begehrt, vor<br />

allem wohl, weil sie selten Zukunftsperspektiven boten. Von <strong>der</strong> „Auswan<strong>der</strong>ung zur Arbeit“<br />

erwarteten viele eine Möglichkeit, „sich ein besseres Leben einzurichten“, wie ein russischer<br />

Hafenarbeiter in Wilhelmshaven Ende Januar 1949 schrieb:<br />

[…] seit etwa 2 Jahren bin ich bei <strong>der</strong> IRO registriert für die Ausreise zur Arbeit, wohin<br />

auch immer und zu welcher Arbeit auch immer. In großen Abständen habe ich ein paar<br />

Mal [bei <strong>der</strong> IRO] vorgesprochen, weil die Reise [zur zuständigen IRO-Stelle mir] den<br />

letzten Groschen nimmt. Die Antwort [war] immer ein und dieselbe, zur Zeit gibt es<br />

nichts, später vielleicht. Geduldig wartete ich ab, alle Entbehrungen ertragend, gebe<br />

Gott, vielleicht gelingt es, diesen Alptraum zu verlassen und sich ein besseres Leben einzurichten.<br />

Gestern habe ich irgendwie [alle] Ressourcen zusammengenommen und bin<br />

gefahren, um mich für Australien eintragen zu lassen. Sie empfingen mich zum Glück höflich,<br />

fragten mich aus, wo ich früher gearbeitet hätte, was ich jetzt mache, nach meinem<br />

Alter, prüften alle Papiere und dann, wie furchtbar!, die Antwort: bei Ihrem Alter (ungefähr<br />

53 Jahre) gibt es nicht die allergeringste Hoffnung, Deutschland zu verlassen. Dieser<br />

unerwartete Donner mitten am schönen Tage hat [mir] einen solchen Schlag versetzt,<br />

dass ich nicht gleich antworten konnte. Nach einer kurzen Pause fragte ich zurück: Aber<br />

vielleicht än<strong>der</strong>t sich in Zukunft etwas und es wird möglich, irgendwohin auszureisen.<br />

Die Antwort: Absolut keine Hoffnung. Als ich, mich verabschiedend, auf die Straße hinaus<br />

ging, fühlte ich den Boden nicht unter mir und dachte: ich habe doch kolossale Kräfte,<br />

einen kräftigen Körperbau, bin fast zwei Meter groß und da soll es keine Hoffnung geben<br />

– was erwartet dann erst unsere Kranken, Schwachen, Krüppel u.s.w.? 164<br />

Natürlich war ein fortgeschrittenes Alter wie<strong>der</strong> ein Anlass für „Korrekturen“ in den Biografien<br />

von <strong>DPs</strong>. Im Zusammenhang mit dem Problem <strong>der</strong> Arbeit ist jedoch wichtig, dass in <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> <strong>DPs</strong> selbst Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zur notwendigen Voraussetzung für<br />

Emigration wurde. Es ist bedrückend, in diesen Kriterien die Auswahlkriterien <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Rekrutierung von ZwangsarbeiterInnen wie<strong>der</strong>zuerkennen. Die Vorstellungen und<br />

Erwartungen <strong>der</strong> <strong>DPs</strong> in Bezug auf die Län<strong>der</strong>, in die sie auszuwan<strong>der</strong>n wünschten, wurden von<br />

meinen InterviewpartnerInnen sehr unterschiedlich geschil<strong>der</strong>t. Igor Kaczurowskyj, <strong>der</strong> 1948<br />

nach Argentinien emigrierte, berichtete, dass die Menschen „einfach irgendwohin“ auswan<strong>der</strong>n<br />

wollten. 165 Doch hatten viele <strong>DPs</strong> auch konkretere Erwartungen an das gewählte Auswan<strong>der</strong>ungsland.<br />

Galina Konstantinovna schil<strong>der</strong>te in unserem Gespräch die Überlegungen, die sie mit<br />

ihrem Mann zusammen anstellte:<br />

Und wissen Sie, was er wollte? […] er wollte nach Amerika. Na, damals – nach Amerika!<br />

Aber ich sagte – nach Australien o<strong>der</strong> nach Kanada. Na ja, und dann ergab es sich, dass<br />

164<br />

Auszug aus dem Brief eines <strong>russischen</strong> DP in Wilhelmshaven-Nord, Lager Hilgenstock, 29. 1. 1949, FSO,<br />

Historisches Archiv, F. 98 / 4 a.<br />

165<br />

Interview mit Igor Kaczurowskyj am 29. September 2002.

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