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„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...

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„Stiller als Wasser, tiefer als Gras“ 29<br />

mit Hilfe von französischen Diplomaten verlassen hatte, veröffentlichte er 1956 in München<br />

seine Erinnerungen, in denen er warnt: „Diejenigen, die in den freien Län<strong>der</strong>n leben, machen<br />

keinen Fehler, wenn sie hier bleiben. Es wäre ein Fehler, in die Heimat zu reisen“. 70<br />

Zusammenfassung<br />

Unterschiedlichste Motive führten bei den ursprünglich gegen ihren Willen Deportierten dazu,<br />

die Rückkehr in die Sowjetunion zu verweigern. Dazu gehörten neben Erfahrungen von Repressionen<br />

in <strong>der</strong> Vergangenheit o<strong>der</strong> ihrer Erwartung in <strong>der</strong> Zukunft vor allem die persönlichen<br />

Beziehungen, die <strong>DPs</strong> im besetzten Deutschland hatten. Letzteren kam nach Aussagen <strong>der</strong> von<br />

mir Befragten die größte Bedeutung zu. Ein wichtiges Motiv war wohl auch das <strong>der</strong> „Selbständigkeit“,<br />

das von Natalja Pavlovna betont wurde und dem sie ihre Stigmatisierung als „Volksfeindin“<br />

in <strong>der</strong> Sowjetunion gegenüber stellte. Entschieden kommt darin die Weigerung zum<br />

Ausdruck, noch einmal Objekt frem<strong>der</strong> Entscheidungen zu werden und erneut Gefahr zu laufen,<br />

entmündigt und <strong>der</strong> Freiheit beraubt zu werden.<br />

Bei den Interviews ist es in einem Fall nicht gelungen, die subjektiven Gründe für das Verbleiben<br />

in Deutschland in Erfahrung zu bringen: Galina Konstantinovna berichtete, sie habe das<br />

ganze Jahr 1945 über auf ihre Repatriierung gewartet, doch sei auch <strong>der</strong> letzte Transport aus<br />

Bremen am 19. November ohne sie abgefahren. In ihrem Fall fehlten sowohl Erfahrungen von<br />

Unterdrückung in <strong>der</strong> Sowjetunion als auch die persönlichen Beziehungen, die sie dazu hätten<br />

bewegen können, im Westen zu bleiben. Erst nachdem sie Anfang 1946 in ein Lager bei Kassel<br />

umgesiedelt worden war und ihren späteren Mann, einen „alten“ Emigranten, kennenlernte,<br />

beschloss sie, zunächst in Deutschland zu bleiben. In ihrem Fall könnte <strong>der</strong> von Wolfgang<br />

Jacobmeyer angenommene Zusammenhang von verspäteten Repatriierungsmöglichkeiten und<br />

einem gewissen Gewöhnungseffekt in Bezug auf das Leben und die Versorgung im DP-Lager<br />

eine Rolle gespielt haben. 71 Offenbar mussten jedoch auch dann – wie im Fall von Galina Konstantinovna<br />

– noch persönliche Beziehungen hinzukommen, bevor sich <strong>DPs</strong> bewusst für ein<br />

Verbleiben im besetzten Deutschland entschieden.<br />

Entwicklung von Verweigerungsstrategien<br />

Ein großer Teil <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>DPs</strong>, die sich in Deutschland und Österreich aufhielten, hatte<br />

bereits sehr früh die Entscheidung getroffen, nicht in die Sowjetunion zurückzukehren. Vor<br />

allem Flüchtlinge und natürlich auch ehemalige Kollaborateure entwickelten individuell o<strong>der</strong> in<br />

Gruppen Strategien, um das Abkommen von Jalta zu unterlaufen. In dem Abkommen war unter<br />

an<strong>der</strong>em vereinbart worden, dass die von sowjetischen <strong>DPs</strong> bewohnten Lager nach <strong>der</strong> deutschen<br />

Kapitulation in die sowjetische Administration übergehen sollten. Entschiedene Repatriierungsgegner<br />

entzogen sich daher zunächst dadurch <strong>der</strong> Repatriierung, dass sie diese Lager<br />

mieden. Das Gerücht von <strong>der</strong> Rückführung sowjetischer <strong>DPs</strong> auch unter Zwang verbreitete sich<br />

sehr schnell. Durch erste Flugblätter und Mundpropaganda wurde dieser Prozess noch beschleunigt.<br />

In <strong>der</strong> Folge verließen <strong>DPs</strong> mitunter fluchtartig die sowjetischen Lager. Einigen<br />

gelang es, in <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft „unterzutauchen“. Sie traten damit als <strong>DPs</strong> für eine<br />

gewisse Zeit gar nicht in Erscheinung. Noch verbreiteter scheint <strong>der</strong> Versuch gewesen zu sein,<br />

eine fingierte Identität und Staatsbürgerschaft anzunehmen. Als hilf- und erfolglosester, aber<br />

auch problematischster Versuch des Wi<strong>der</strong>standes gegen die Jaltaer Vereinbarungen seitens <strong>der</strong><br />

<strong>DPs</strong> müssen schließlich ihre verbalen und physischen Angriffe auf die sowjetischen Repatriierungsoffiziere<br />

gelten.<br />

70 Zotov, Georgij: Ja pobyval na rodine [Ich bin in <strong>der</strong> Heimat gewesen], München: Svobodnij golos, 1956, Zitat S. 3.<br />

Tatjana Stepanovna hat nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> Sowjetunion we<strong>der</strong> die Frau noch das Kind ihres in den<br />

siebziger Jahren verstorbenen Bru<strong>der</strong>s ausfindig machen können.<br />

71 Vgl. Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter, S. 87–90.

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