„displacement“-Genese der russischen DPs - Forschungsstelle ...
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56 Anne Kuhlmann-Smirnov<br />
Unterschiedlich wird <strong>der</strong> Grad <strong>der</strong> Eingebundenheit in das amerikanische Umfeld o<strong>der</strong> in bereits<br />
bestehende Emigrantenstrukturen reflektiert, die im Vergleich zu den DP-Lagern weniger<br />
ausgeprägt scheinen. Das ungezwungenere Auftreten und die Umgangsformen <strong>der</strong> Amerikaner<br />
werden in gleichem Maße bewun<strong>der</strong>t und verachtet. In den Memoiren von Nekljudov und<br />
Fesenko sowie den „Aufzeichnungen“ von Zavolokin wird die Freiheitsstatue hervorgehoben,<br />
New Yorks Skyline beschworen, <strong>der</strong> Schmutz <strong>der</strong> Stadt moniert. Die Suche nach <strong>der</strong> eigenen<br />
Rolle in <strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft, die in Schil<strong>der</strong>ungen aus dem Alltagsleben zum<br />
Ausdruck kommt, muss verwirrend auf ihre Leser in den DP-Lagern in Europa gewirkt haben:<br />
Ich bin schon in einen neuen rotgesprenkelten Anzug eingekleidet und sehe mit Hilfe des<br />
„Book on Etiquette“ fast wie ein Amerikaner aus. In <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong> Seele ahne ich, dass<br />
gerade die Befolgung <strong>der</strong> Regeln, wie sie in dem Buch gezeigt werden, meine Inkompetenz<br />
im Hinblick auf die hiesigen Sitten und Gebräuche noch unterstreicht, weil die Amerikaner<br />
sich gerade nicht durch Etikette auszeichnen (zum Glück), aber sie sind sehr höflich<br />
und entgegenkommend, ohne eine Andeutung von Geziertheit. 171<br />
Der relative Wohlstand <strong>der</strong> „kleinen Leute“ und die Selbstverständlichkeit, mit <strong>der</strong> sie über<br />
materielle Güter verfügten, kontrastierten mit dem offiziellen sowjetischen Bild des dem Untergang<br />
geweihten „faulenden Westens“. Gleichzeitig stützte dies den inoffiziell lang gehegten<br />
Verdacht, nach dem dieses Bild reine Propaganda sei, <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong> Sowjetunion in vielen<br />
Anekdoten nie<strong>der</strong>geschlagen hatte. Sarkastisch und bissig greift <strong>der</strong> folgende Briefschreiber<br />
sowjetische Stereotype und Ausdrucksweisen auf:<br />
Verzeihen Sie, dass ich selten schreibe – ‚<strong>der</strong> Alltag zehrt [mich] auf’: Autos, Staubsauger<br />
und weitere Attribute des faulenden Westens. Man muss zugeben, dass er sehr angenehm<br />
fault! Da ich bisher niemals faulte, son<strong>der</strong>n in sowjetischer Munterkeit in einer<br />
Kommunalwohnung für fünf Familien lebte und zur Arbeit auf dem vereisten Trittbrett<br />
einer Trambahn fuhr, zitternd vor Kälte und <strong>der</strong> Angst, wegen Verspätung [am Arbeitsplatz]<br />
ins Gefängnis zu kommen, weil die Trambahn wie<strong>der</strong> aus den Gleisen springt, so<br />
verwese ich beson<strong>der</strong>s intensiv. Ich habe viele Überstunden gemacht, aber lei<strong>der</strong> nicht<br />
umsonst, wie ich es nach Art des sozialistischen Wettbewerbs im Land <strong>der</strong> Arbeiter zu tun<br />
gewohnt war, son<strong>der</strong>n ich erhielt vollkommen skrupellos die an<strong>der</strong>thalbfache Bezahlung<br />
von den hiesigen Kapitalisten. […] Und jeden Morgen, wenn ich [im Auto] zu <strong>der</strong> Fabrik<br />
fahre, in <strong>der</strong> ich arbeite, erinnere ich mich an die sowjetische Anekdote, die Ihnen wahrscheinlich<br />
bekannt ist: ‚Ein amerikanischer Tourist fragt den Fremdenführer, <strong>der</strong> ihm einen<br />
Neubau zeigt: Wem gehört die Fabrik? – Den Arbeitern!, folgt die verwun<strong>der</strong>te Antwort.<br />
– Und das einzige Auto, das beim Hauptgebäude steht? – Dem Direktor. – Da zieht<br />
<strong>der</strong> Amerikaner ein Foto hervor, auf dem eine Fabrik abgebildet ist, und bei <strong>der</strong> Einfahrt<br />
mehrere hun<strong>der</strong>t Autos. – Bei uns gehört die Fabrik dem Direktor, und all diese Autos<br />
[gehören] den Arbeitern. 172<br />
Die Anekdote wie das gesamte Brieffragment rechnet ab mit dem politischen System <strong>der</strong> Sowjetunion,<br />
indem sowjetische Stereotype über den Westen umgekehrt und gegen es selbst gerichtet<br />
werden. Zweifellos hatten solche Briefe Einfluss auf die im perspektivlosen Deutschland<br />
zurückgebliebenen <strong>DPs</strong>. So berichtete Margarethe Gabriel, Mitarbeiterin <strong>der</strong> Tolstoy Foundation<br />
seit 1947, dass die USA als Auswan<strong>der</strong>ungsland bei den <strong>DPs</strong> beson<strong>der</strong>s beliebt waren, weil<br />
„man hat sich […] vorgestellt, das ist ein Wun<strong>der</strong>land“. 173 Auch Zavolokin konstatiert 1967 in<br />
seinen „Aufzeichnungen“, dass viele <strong>DPs</strong>, die „übereilt“ aus den besetzten Westzonen Deutschlands<br />
in ein beliebiges Land ausgereist seien, „bis heute die Hoffnung nicht aufgegeben [haben],<br />
nach Nordamerika zu gelangen […].“ 174<br />
171<br />
Fesenko: Povest’ krivych let, S. 199–200.<br />
172<br />
Ebd., S. 202–203.<br />
173<br />
Interview mit Margarethe Gabriel am 1. Oktober 2002.<br />
174<br />
Zavolokin: Emigranty, S. 115–116.