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Iurratio – Juristische Nachwuchsförderung eV

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Jugendstrafrecht für junge Rechtsbrecher<br />

von Intendant Prof. Dr. jur. Christoph Nix (Konstanz/Universität Bremen)<br />

„...tatsächlich hat mich in meinem Leben nur wenig mit größerer Leiden-<br />

schaft erfüllt, wie die strafrechtliche Seite unserer Welt. Wenn wir diese<br />

strafrechtliche Seite unserer Welt und das heißt unserer Gesellschaft verfolgen,<br />

erleben wir, wie gesagt wird, jeden Tag unsere Wunder.“<br />

(Thomas Bernhard, Der Untergeher)<br />

A. EINLEITUNG 1<br />

Wie die meisten von uns, habe ich als Jugendlicher Straftaten begangen. Ich<br />

erinnere mich noch sehr genau an meinen Wunsch, unbedingt Moped fahren<br />

zu wollen. In Freistunden oder wenn ich den Unterricht schwänzte boten<br />

sich die besten Gelegenheiten. Ich war 15 Jahre alt und ging auf ein kleinstädtisches<br />

Gymnasium. Ich hatte einen Schulfreund, der fuhr eine „Kreidler<br />

Florett“ und die borgte er mir aus. Manchmal fragte ich ihn vorher, ein anderes<br />

Mal auch nicht.<br />

An einem sonnigen Vormittag fuhr ich mit einem Klassenkameraden Kurt die<br />

Landstraße entlang. Plötzlich überholte uns ein Polizeifahrzeug. Kurz darauf<br />

hielt es an und zwei Beamte winkten mit einer Kelle. Ich bremste und die beiden<br />

wollten meinen Führerschein sehen. Ich behauptete, ihn zu Hause liegen<br />

gelassen zu haben. Aber allzu lange hielt ich meine Notlüge nicht durch. Ich<br />

beichtete, ich legte ein Geständnis ab. Erleichterung auf allen Seiten. Nichts<br />

wünscht sich die Strafverfolgungsbehörde mehr, als geständige Beschuldigte,<br />

Angeschuldigte, Angeklagte Sie gelten als reumütig und resozialisierbar. 2<br />

B. GELTUNGSBEREICH DES JGG oDER WIE WIRD MAN KRIMI-<br />

NELL?<br />

Mittlerweile gehört es zum Standardwissen, dass Jugendstrafrecht an den<br />

Hochschulen spannend, Kriminalität in jungen Jahren durchaus normal und<br />

ubiquitär sein soll.<br />

Rössner beschreibt diesen Prozess etwas sachlicher:<br />

„In einem komplexen Entwicklungsprozess des Normlernens, der zweiten<br />

sozialen Geburt wird gemeinschaftsbezogenes Wissen und Handlungskompetenz<br />

erst erworben. Das Jugendstrafrecht ist ein Meilenstein dieser<br />

Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahrzehnten. Mit dem Eintritt<br />

ins 14. Lebensjahr (§ 1 JGG; § 19 StGB) gelten für den öffentlichen Raum<br />

die Strafvorschriften der Erwachsenen mit den entsprechenden Verboten<br />

uneingeschränkt.“ 3<br />

Es ist eine normative Entscheidung, dass man bei uns mit dem 14. Lebensjahr<br />

strafmündig wird. Das JGG von 1923 (§ 1JGG 1923) hatte die Strafbarkeit<br />

vom 12. auf das 14. Lebensjahr angehoben, im Nationalsozialismus war<br />

1 Ausführlicher Christoph Nix/Winfried Möller Einführung in das Jugendstrafrecht,<br />

München 2011.<br />

2 Vgl. Walter, Jugendkriminalität, Rn. 206. Häufig kommt es zu falschen<br />

Geständnissen, damit man die unangenehme Situation der Erstvernehmung<br />

los wird. Zur weiteren Lektüre: Nix, Verbotene Vernehmungsmethoden<br />

bei Kindern und Jugendlichen, MSchrKrim 1993, S. 181.<br />

3 Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, S.2.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Ausbildung<br />

Christoph Nix studierte Jura an der Universität Gießen. Das Re-<br />

ferendariat machte er in Frankfurt am Main. 1988 wurde er an<br />

der Universität Bremen zum Dr. jur. promoviert, 1990 zum Pro-<br />

fessor ernannt, in Hannover berufen. Er war Strafverteidiger in<br />

Gießen, ab 1988 lehrte er in Hannover Strafrecht. Lehre an der<br />

HU Berlin, an der Universität der Künste und in Kassel. Im<br />

Januar 2011 wurde Christoph Nix an der Universität Bremen<br />

zum Professor für Jugendstrafrecht und Bühnenrecht ernannt.<br />

sie wieder gesenkt worden (RJGG 1943) und in Ost und West haben wir zum<br />

einen mit dem JGG 1953 und in der DDR bereits seit 1951 eine Strafmündigkeit<br />

ab 14 Jahren gehabt.<br />

Mit unserer Erfindung von Kindheit und Jugend, die ja erst eine Idee der Neuzeit<br />

zur bürgerlichen Gesellschaft hin beschrieb, haben wir ein Stufenmodell<br />

anerkannt. 4<br />

Das Kind hatte 14 Jahre Zeit um sich gesellschaftliche Regeln, soziales Wissen<br />

und Handeln anzueignen. Das Jugendstrafrecht räumt den Jugendlichen<br />

(14-17 Jahre) und den Heranwachsenden (18-20 Jahre) eine Übergangsfrist<br />

(§ 1 Abs. 2 JGG) bei dieser Entwicklung ein.<br />

Vor über dreißig Jahren schrieb der Kriminologe Stephan Quensel in der Zeitschrift<br />

„Kritische Justiz“ einen Aufsatz mit der Überschrift „Wie wird man<br />

kriminell“ 5 .<br />

Diese Frage, die in den meisten Lehrbüchern zum Jugendstrafrecht ausgeklammert<br />

wird, beschäftigt uns alle, gesellschaftspolitisch führt sie zu unterschiedlichen<br />

Ergebnissen: wer so denkt, dass der junge Mensch über alle oder<br />

viele Möglichkeiten der Selbstentscheidung auch in irrationalen Situationen<br />

und erbärmlichen Verhältnissen verfügt, der reagiert, wenn der andere sie<br />

übertritt mit stärkerer Repression.<br />

Quensel aber verbindet mit seinem Aufsatz verschiedene Erkenntnismethoden<br />

und Theorien und führt sie in einem Zeit- und Eskalationsmodell<br />

zueinander.<br />

Man spürt bei ihm den Einfluss, aber auch die alte Liebe zur Psychoanalyse<br />

Sigmund Freuds. So beschreibt er den scheinbar unaufhaltsamen Prozess der<br />

Kriminalisierung eines Jugendlichen sowohl aus der Perspektive der Individualpsychologie<br />

(z.B. deviantes Verhalten als Problemlösungsmuster) vermittelt<br />

uns eine Übersicht über verschiedene Erklärungsansätze von Jugendkriminalität<br />

und macht zugleich deutlich, dass Gesellschaft in ihrer jeweiligen<br />

Verfassung Produzent von Kriminalität ist. 6<br />

Unter Jugendkriminalität wird das jenige Verhalten von Jugendlichen und<br />

Heranwachsenden verstanden, das nach den allgemeinen Vorschriften mit<br />

4 Vgl. Aries, Geschichte, S.92 ff.<br />

5 KJ 1970, S. 377.<br />

6 Vgl. Christie, Kriminalität, S. 79 ff.<br />

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