almanah „Hier revoltiert die Jugend, nicht der Islam“ 16 JAHRBUCH FÜR INTEGRATION bereitgestellt
almanah Politologe Olivier Roy spricht im Interview über Europas Dschihadisten, das Schweigen ihrer Eltern und Wege aus der Radikalität. T E X T : Michael Hesse, Frankfurter Rundschau Professor Roy, Sie gelten als der beste Kenner des europäischen Islam. Wie besiegt man den sogenannten Islamischen Staat (ISIS)? Die Radikalisierung in Europa ist nicht eine Folge der Existenz von ISIS im Nahen Osten. Wir erleben seit Jahren eine Radikalisierung einer bestimmten Kategorie von Jugendlichen in Europa. Diese Jugend, die sich radikalisiert, sucht einen globalen Dschihad. Zunächst war dies Al-Kaida. Nachdem sie an Bedeutung verloren haben, ist es nun ISIS. Sie instrumentalisieren und nutzen diese Radikalen. Aber sie schaffen sie nicht bzw bringen sie nicht erst hervor. ISIS ist ein Phänomen per se, es ist nicht eine Folge der Radikalisierung der Jugend im Westen, sondern beruht auf lokalen Faktoren im Mittleren Osten. Die Stärke von ISIS besteht darin, die lokalen Gegebenheiten mit dem globalen Phänomen der Radikalisierung der Jugend zu verknüpfen. Es gibt einen Kampf an zwei Fronten? Exakt. ISIS im Nahen Osten zu bekämpfen ist eine gute Sache, aber sie wird nicht dazu führen, die Radikalisierung unter den Jugendlichen in Europa zu beenden. Selbst wenn wir die Jugend hier entradikalisieren, wird dies nicht ISIS insgesamt zerstören oder schwächen. Wir müssen also in den Kategorien von zwei Fronten denken. Wir haben es mit einem globalen Dschihadismus zu tun, der alles bekämpfen will. Wir haben es mit zwei verschiedenen Phänomenen zu tun, die miteinander verbunden sind. Aber was wäre ein erster erfolgreicher Schritt, wenn wir in den Nahen Osten blicken. Wir „ISIS hat in einem territorialen Sinne sein Limit erreicht.“ erinnern uns, die USA waren mit ihrem Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan nicht sehr erfolgreich. Das ist absolut richtig. Und in einem gewissen Sinne ist ISIS eine Folge der militärischen Intervention der USA im Irak im Jahr 2003. Es war die Zerstörung des Zentrums des irakischen Staates und die Verschiebung der Macht auf die Seite der Schiiten, die die sunnitischen Araber radikalisiert hat und zu den Attacken von ISIS geführt hat. Wie bekämpft man ISIS im Nahen Osten? Das Problem ist, dass niemand sie wirklich bekämpfen will – außer den Franzosen. Sie stehen ziemlich allein da. Die lokalen Akteure haben jeder für sich schlimmere Feinde als ISIS. Die Kurden haben die Türken, für Baschar al-Assad ist es die eigene Opposition, also die Rebellen, für die Schiiten im Allgemein sind es die Sunniten, für die Iraner ist es Saudi-Arabien und für die Saudis ist es der Iran. Keiner ist bereit, Truppen zu schicken und Rakka oder Falludscha, die Hochburgen von ISIS, einzunehmen. Das ist das große Problem. Und der amerikanische Einsatz hilft nicht? Die US-Strategie der Bombardierung macht nur dann Sinn, wenn es auch Bodentruppen gibt. Es müssen keine amerikanischen Truppen sein, sondern lokale Soldaten. Mit Luftschlägen kann man Bodentruppen gut unterstützen, aber man muss sie erst einmal haben. Die Amerikaner kämpfen jedoch immer nur zu eigenen Bedingungen. Ich denke nicht, dass die Amerikaner dies tun werden. Es sei denn, es würde einen großen Terroranschlag in den USA geben. Man benötigt 100 000 Soldaten am Boden, um ISIS zu besiegen. Der Wille hierzu ist in den USA nicht vorhanden. Aber was folgt daraus? Das ist ganz einfach. Wenn keiner Truppen schicken will, wie will man dann ISIS bekämpfen? Man braucht stattdessen eine politische Koalition. Es geht darum, einen Kompromiss zwischen den lokal handelnden Akteuren zu finden, mit Rücksichtnahme auf die jeweiligen Probleme. Und davon gibt es jede Menge. So muss die Türkei mit den türkischen Kurden zu einer politischen Übereinkunft kommen, die ja schon auf den Weg gebracht war vor dem Auftreten von ISIS. Früher oder später müssen auch die Iraner und Saudis miteinander reden. Es sind zwei Todfeinde. Ja, aber die Iraner können nicht mehr erreichen als sie jetzt schon haben. Sie haben Teheran, sie haben Bagdad, sie haben Damaskus. Sie haben viel zu verlieren. Die Saudis haben das Problem, dass sie Truppen nach außen gesandt haben ‣ JAHRBUCH FÜR INTEGRATION 17