Almanah 2015
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almanah<br />
Marko Mestrović, Philipp Tomsich<br />
„Meine Eltern<br />
konnten nie in der<br />
Schule helfen.“<br />
Meine Mama ist Putzfrau und mein Vater<br />
Fensterreiniger. 2005 kam mein Vater nach<br />
Österreich. Meine Mutter, Schwester und<br />
ich folgten ein Jahr später. Ich kam direkt<br />
in die Volksschule, obwohl ich kein Wort<br />
Deutsch konnte. Doch ich lernte fleißig,<br />
denn meine Eltern hatten schon genug<br />
Sorgen, ich wollte sie mit meinen guten<br />
Noten glücklich machen. Meine Eltern<br />
konnten mir nie bei der Hausübung helfen,<br />
wie die Eltern meiner Klassenkollegen. Ich<br />
machte immer alles alleine. Wenn meine<br />
Mama erschöpft nach Hause kam, eilte ich<br />
ihr entgegen, um ihr die Sachen abzunehmen.<br />
Sie war so müde und hatte keine Kraft<br />
sich meine Geschichten aus der Schule<br />
anzuhören.<br />
Ich war ein sehr ehrgeiziges Kind, ging<br />
von der Schule immer direkt nach Hause,<br />
um zu lernen. In der Schule wurde ich<br />
deswegen gemobbt und als Klugscheißerin<br />
beschimpft, weil ich gerne Fremdworte<br />
verwendete, die sie gar nicht<br />
kannten. Unser Vermieter hatte uns sein<br />
volles Bücherregal dagelassen, daraus<br />
nahm ich mir meinen Lesestoff und die<br />
ganzen neuen Wörter. Ich meldete mich<br />
auch alleine in der Bibliothek an, meine<br />
Eltern hatten keine Zeit dafür.<br />
Ich begann zusätzlich Klavier zu<br />
spielen und träumte von einem weißen<br />
Piano. Doch leider reichte das Geld nach<br />
sechs Jahren Klavierunterricht nur für<br />
ein elektrisches Wandpiano um 450<br />
Euro.<br />
Meinem Vater geht es auch nicht so<br />
gut, er kommt von der Baustelle, wo<br />
er zurzeit arbeitet, immer kaputt nach<br />
Hause und haut sich vor den Fernseher.<br />
Er hat keine Zeit für uns Kinder. Ich<br />
beneide meine Klassenkollegen, deren<br />
Eltern auf Schulausflüge mitkommen<br />
und sich mit ihnen am Esstisch über<br />
Politik unterhalten.<br />
Auf Elternabenden schäme ich mich<br />
für das Deutsch und die Berufe meiner<br />
Eltern. Ich merke, wie genervt die Lehrer<br />
werden, wenn sie mit ihnen reden.<br />
Meine Eltern lesen eher serbische<br />
Zeitungen, ich dagegen bin immer<br />
überglücklich, wenn jemand den<br />
Standard in der U-Bahn liegen lässt<br />
oder wir ihn in der Schule ausgeteilt<br />
bekommen. Ich liebe es, Zeitungen zu<br />
lesen. Vielleicht werde ich später sogar<br />
Journalistin. Mein Vater ist von dieser<br />
Idee nicht begeistert, er möchte, dass ich<br />
nach der Schule gleich arbeiten gehe und<br />
die Familie finanziell unterstütze. Er<br />
sagt, wir sollen froh sein, mit dem was<br />
wir haben. Aber ich will mehr.<br />
Natasa Stojanović (15), Schülerin am<br />
Gymnasium Henriettenplatz<br />
„Ich beneide<br />
Klassenkollegen,<br />
die sich mit ihren<br />
Eltern über Politik<br />
unterhalten.“<br />
Natasa (15)<br />
„Viel lernen ist<br />
nichts für dich.“<br />
Ich kam mit zwei Jahren nach Österreich.<br />
Im Kindergarten sprach ich kein Wort, weil<br />
ich verängstigt war: geflohen aus dem Bosnienkrieg<br />
in ein völlig neues Leben. Die<br />
Kindergärtnerinnen dachten schon damals,<br />
aus mir würde nichts werden. In der Volksschule<br />
blieb ich weiterhin das schüchterne<br />
Mädchen, alle dachten, ich könnte<br />
nicht gut genug Deutsch, dabei lernte ich<br />
zuhause das Findefix Wörterbuch auswendig,<br />
ich kannte jedes Wort, ich war einfach<br />
nur zurückhaltend. In der vierten Klasse<br />
mussten sich meine Eltern entscheiden:<br />
Gymnasium oder Hauptschule. „Hauptschule“,<br />
sagte mein Vater: „Viel lernen ist<br />
nichts für dich.“<br />
Doch meine Volksschullehrerin riet<br />
meiner Mutter, mich im Gymnasium<br />
anzumelden, sie sah Potential in mir. Sie<br />
hat mir damit meine Zukunft gerettet.<br />
Im Gymnasium bekam ich eine Drei<br />
auf die erste Deutschschularbeit. Ich<br />
weinte den ganzen Nachhauseweg.<br />
Deutsch war mein Lieblingsfach, ich<br />
tat in meiner Freizeit nichts anderes<br />
als zu lesen und zu schreiben. Vielleicht<br />
hätte ich auf meinen Vater hören sollen,<br />
vielleicht war das alles wirklich nichts<br />
für mich.<br />
In meiner ganzen Klasse waren<br />
Kinder, deren Eltern Anwälte, Architekten<br />
und Oberärzte waren. Mein Vater war<br />
Reifenhändler und meine Mutter hatte<br />
eine Lehre als Apothekerin abgeschlossen.<br />
Wir haben eine Wohnung, in der<br />
man jedes Geräusch hört. Beim Lernen<br />
und Hausübungen schreiben stopfte ich<br />
mir Ohropax rein, um den Fernseher im<br />
Wohnzimmer nicht zu hören. In meiner<br />
Freizeit habe ich nur gelesen. Mein Vater<br />
wurde wütend, wenn er mich vertieft in<br />
meine Bücher sah. „Lern lieber etwas<br />
Nützliches! Was willst du mit den<br />
Büchern, damit kannst du keine Miete<br />
bezahlen!“ Er versteckte meine Bücher,<br />
ich las heimlich in der Bibliothek. Lesen<br />
war für ihn Zeitverschwendung. Er<br />
selbst hat in seinem Leben vielleicht<br />
fünf Bücher gelesen.<br />
‣<br />
JAHRBUCH FÜR INTEGRATION 29