almanah „Ich stopfte mir beim Lernen Ohropax rein, um den Fernseher nicht zu hören.“ Melisa (24) Ich verfasse gerade meine Magisterarbeit in Neuerer Deutscher Literatur und arbeite für biber. Mit Lesen und Schreiben zahle ich tatsächlich meine Miete, Papa. Melisa Erkurt (24), angehende Deutsch- Lehrerin und biber-Redakteurin Doch dass Lesen sich lohnt, bewies mein Zeugnis: Ich hatte nur Einsen und gehörte in einer sehr leistungsstarken Klasse zu den Besten. Dass ich anders als meine Klassenkollegen war, zeigte sich nur an Elternsprechtagen und Schulfeiern. Acht Jahre lang kam nur meine Mutter. Mein Vater hat mein Gymnasium noch nie von innen gesehen. Er kam nicht einmal zur Maturafeier. Er sprach schlecht Deutsch, er fühlte sich dort nicht wohl, das war nicht seine Welt. Doch Bildungsinstitutionen waren total meine Welt. Die Schule war mein Lieblingsort. Als ich maturierte, wusste ich, ich werde wieder zurückkommen. An der Uni tat ich mir leicht, arbeitete nebenbei, ich musste mir mein Studium selbst finanzieren – schließlich war es meine Entscheidung gewesen auf die Uni zu gehen. Dieses Jahr habe ich mit 24 mein Deutsch, Psychologie und Philosophie Lehramtsstudium abgeschlossen. „Mein Vater war so kaputt, dass er mein Maturazeugnis nicht einmal anschaute.“ Mein Vater ist Fernfahrer und kommt nur alle zwei Wochen nach Hause, meine Mutter ist Hilfsarbeiterin und arbeitet ab sechs Uhr in der Früh. Als Kind habe ich in einem kleinen Dorf in Niederösterreich am Feld mitgearbeitet. Die Arbeit war hart und ich wusste, ich muss zur Schule gehen, um irgendwann einen besseren Job zu bekommen. Ich hatte gute Noten, nur in Deutsch tat ich mir schwer. Ich schaffte es von der Hauptschule in die HTL, fuhr jeden Morgen eineinhalb Stunden zur Schule. Ich schrieb 15 Bewerbungen für Pflichtpraktika und bekam keine einzige Zusage. Mein Name war ausländisch und meine Eltern hatten keine Connections. Ich wusste, um die fehlenden Praktika auszugleichen, musste ich gute Noten schreiben und tatsächlich maturierte ich mit ausgezeichnetem Erfolg. Zu meiner Maturafeier kam nur mein Bruder, meine Eltern mussten arbeiten. Mein Vater legte eine Pause an einer Tankstelle ein und ich eilte zu ihm, um ihm mein Maturazeugnis zu zeigen. Mein Vater war so kaputt, dass er mein Maturazeugnis nicht einmal anschaute und gleich zur Seite legte. Von da an wusste ich: Ich muss das für mich selbst machen und nicht für die Anerkennung anderer. Als ich nach Wien ging, um mich an der Technischen Universität zu inskribieren, hatten meine Eltern keine Ahnung, was das bedeutete. Meine Mutter war besorgt, sie sagte, dass ich mir das gut überlegen sollte. Ich suchte mir im Alleingang eine Wohnung und meine Eltern realisierten die ersten paar Monate gar nicht, was ich da jetzt eigentlich in Wien machte. Hier kannte ich niemanden, hatte anfangs keinen einzigen Freund. Auch musste ich mir mein Studium selbst finanzieren, arbeitete Teilzeit, im Sommer immer Vollzeit. Trotz Bachelor in Maschinenbau, glaubt mein Vater nicht, dass ich mich in meinem Gebiet auskenne: „Was weißt du schon, du bist nur Student“, sagt er, wenn ich von meinem Schwerpunkt, der Energietechnik, erzähle. Zurzeit schreibe ich an meiner Masterarbeit über alternative Energie und möchte danach in die Forschung. Ich bin der Erste aus meiner Familie mit Uniabschluss. Mit Titel werde ich hierzulande viel besser behandelt als meine Eltern. Ich werde auch viel weniger als meine Eltern arbeiten müssen, aber deutlich mehr verdienen. Mein erstes Gehalt werde ich meiner Mutter geben, das habe ich ihr damals versprochen. Dann werden meine Eltern auch sehen, dass sich studieren gelohnt hat. Halil Ibrahim Candeğer (27), Masterstudent an der TU Dieser Artikel erschien das erste Mal in der biber Juni-Ausgabe <strong>2015</strong> 30 JAHRBUCH FÜR INTEGRATION
almanah Jetzt Green Points App herunterladen und Umweltprojekte fördern. Informationen zum Projekt unter oebb.at/greenpoints Paradies für Amphibien ist ein gemeinsames Projekt von ÖBB und WWF Österreich. JAHRBUCH FÜR INTEGRATION 31