Almanah 2015
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almanah<br />
Politologe Olivier Roy spricht im Interview über<br />
Europas Dschihadisten, das Schweigen ihrer Eltern<br />
und Wege aus der Radikalität.<br />
T E X T :<br />
Michael Hesse, Frankfurter Rundschau<br />
Professor Roy, Sie gelten als der beste Kenner<br />
des europäischen Islam. Wie besiegt man<br />
den sogenannten Islamischen Staat (ISIS)?<br />
Die Radikalisierung in Europa ist nicht<br />
eine Folge der Existenz von ISIS im Nahen<br />
Osten. Wir erleben seit Jahren eine Radikalisierung<br />
einer bestimmten Kategorie<br />
von Jugendlichen in Europa. Diese Jugend,<br />
die sich radikalisiert, sucht einen globalen<br />
Dschihad. Zunächst war dies Al-Kaida.<br />
Nachdem sie an Bedeutung verloren haben,<br />
ist es nun ISIS. Sie instrumentalisieren und<br />
nutzen diese Radikalen. Aber sie schaffen<br />
sie nicht bzw bringen sie nicht erst hervor.<br />
ISIS ist ein Phänomen per se, es ist nicht<br />
eine Folge der Radikalisierung der Jugend<br />
im Westen, sondern beruht auf lokalen<br />
Faktoren im Mittleren Osten. Die Stärke<br />
von ISIS besteht darin, die lokalen Gegebenheiten<br />
mit dem globalen Phänomen der<br />
Radikalisierung der Jugend zu verknüpfen.<br />
Es gibt einen Kampf an zwei Fronten?<br />
Exakt. ISIS im Nahen Osten zu bekämpfen<br />
ist eine gute Sache, aber sie wird nicht<br />
dazu führen, die Radikalisierung unter den<br />
Jugendlichen in Europa zu beenden. Selbst<br />
wenn wir die Jugend hier entradikalisieren,<br />
wird dies nicht ISIS insgesamt zerstören<br />
oder schwächen. Wir müssen also in den<br />
Kategorien von zwei Fronten denken. Wir<br />
haben es mit einem globalen Dschihadismus<br />
zu tun, der alles bekämpfen will. Wir<br />
haben es mit zwei verschiedenen Phänomenen<br />
zu tun, die miteinander verbunden<br />
sind.<br />
Aber was wäre ein erster erfolgreicher Schritt,<br />
wenn wir in den Nahen Osten blicken. Wir<br />
„ISIS hat in einem<br />
territorialen Sinne<br />
sein Limit erreicht.“<br />
erinnern uns, die USA waren mit ihrem Kampf<br />
gegen den Terrorismus in Afghanistan nicht<br />
sehr erfolgreich.<br />
Das ist absolut richtig. Und in einem gewissen<br />
Sinne ist ISIS eine Folge der militärischen<br />
Intervention der USA im Irak im Jahr<br />
2003. Es war die Zerstörung des Zentrums<br />
des irakischen Staates und die Verschiebung<br />
der Macht auf die Seite der Schiiten,<br />
die die sunnitischen Araber radikalisiert<br />
hat und zu den Attacken von ISIS geführt<br />
hat.<br />
Wie bekämpft man ISIS im Nahen Osten?<br />
Das Problem ist, dass niemand sie wirklich<br />
bekämpfen will – außer den Franzosen.<br />
Sie stehen ziemlich allein da. Die lokalen<br />
Akteure haben jeder für sich schlimmere<br />
Feinde als ISIS. Die Kurden haben<br />
die Türken, für Baschar al-Assad ist es die<br />
eigene Opposition, also die Rebellen, für<br />
die Schiiten im Allgemein sind es die Sunniten,<br />
für die Iraner ist es Saudi-Arabien<br />
und für die Saudis ist es der Iran. Keiner<br />
ist bereit, Truppen zu schicken und Rakka<br />
oder Falludscha, die Hochburgen von ISIS,<br />
einzunehmen. Das ist das große Problem.<br />
Und der amerikanische Einsatz hilft nicht?<br />
Die US-Strategie der Bombardierung macht<br />
nur dann Sinn, wenn es auch Bodentruppen<br />
gibt. Es müssen keine amerikanischen<br />
Truppen sein, sondern lokale Soldaten.<br />
Mit Luftschlägen kann man Bodentruppen<br />
gut unterstützen, aber man muss sie erst<br />
einmal haben. Die Amerikaner kämpfen<br />
jedoch immer nur zu eigenen Bedingungen.<br />
Ich denke nicht, dass die Amerikaner dies<br />
tun werden. Es sei denn, es würde einen<br />
großen Terroranschlag in den USA geben.<br />
Man benötigt 100 000 Soldaten am Boden,<br />
um ISIS zu besiegen. Der Wille hierzu ist in<br />
den USA nicht vorhanden.<br />
Aber was folgt daraus?<br />
Das ist ganz einfach. Wenn keiner Truppen<br />
schicken will, wie will man dann ISIS<br />
bekämpfen? Man braucht stattdessen eine<br />
politische Koalition. Es geht darum, einen<br />
Kompromiss zwischen den lokal handelnden<br />
Akteuren zu finden, mit Rücksichtnahme<br />
auf die jeweiligen Probleme.<br />
Und davon gibt es jede Menge. So muss<br />
die Türkei mit den türkischen Kurden zu<br />
einer politischen Übereinkunft kommen,<br />
die ja schon auf den Weg gebracht war vor<br />
dem Auftreten von ISIS. Früher oder später<br />
müssen auch die Iraner und Saudis miteinander<br />
reden.<br />
Es sind zwei Todfeinde.<br />
Ja, aber die Iraner können nicht mehr<br />
erreichen als sie jetzt schon haben. Sie<br />
haben Teheran, sie haben Bagdad, sie<br />
haben Damaskus. Sie haben viel zu verlieren.<br />
Die Saudis haben das Problem, dass sie<br />
Truppen nach außen gesandt haben ‣<br />
JAHRBUCH FÜR INTEGRATION 17