Magazin 197911
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Dr. Klaus Goeckel,<br />
Akademie für zivile Verteidigung<br />
Verbesserter Schutz von Kriegsopfern<br />
Fortschritte im humanitären Völkerrecht in Genf vereinbart<br />
Am 10. Juni 1977 wurden in Genf von der<br />
Diplomatischen Konferenz zur Neubestätigung<br />
und Weiterentwicklung des humanitären<br />
Völkerrechts in bewaffneten Konflikten<br />
zwei Zusatzprotokolle zu den vier Genfer<br />
Konventionen von 1949 unterzeichnet,<br />
von denen das erste den Schutz der Opfer<br />
internationaler, das zweite den Schutz<br />
nicht internationaler bewaffneter Konflikte,<br />
also von Bürgerkriegen, zum Ziel hat. Damit<br />
wurden die langjährigen Bemühungen<br />
des Internationalen Komitees vom Roten<br />
Kreuz (IKRK) um eine Humanisierung der<br />
Kriegsführung von Erfolg gekrönt, wenngleich<br />
über Wert und Ausmaß dieses Erfolges<br />
durchaus unterschiedliche Auffassungen<br />
bestehen.<br />
Sicher ist zunächst, daß nicht alle der von<br />
Schweizer Seite gehegten und wohl auch<br />
allzu hoch gespannten Erwartungen in Erfüllung<br />
gegangen sind. Dennoch kann sich<br />
das Ergebnis der Konferenz durchaus sehen<br />
lassen: Das erste Zusatzprotokoll enthalt<br />
1 02 Artikel und 2 Anlagen, das zweite<br />
Zusatzprotokol128 Artikel. Ferner wurden<br />
von der Konferenz noch eine Reihe von<br />
Resolutionen gefaßt. Aber gerade dieser<br />
Umfang ist es, der in dem kritischen Betrachter<br />
Zweifel an der praktischen Verwirklichung<br />
der Regeln aufkommen läßt,<br />
denn mit den Bestimmungen der vier Abkommen<br />
von 1949 werden es künftig rd.<br />
600 Artikel sein, die im Ernstfall zu beachten<br />
sein werden. Selbst bei intensiver<br />
Schulung der Soldaten wird eine allgemeine<br />
Kenntnis des Genfer Rechts nur schwer<br />
zu erreichen sein, so daß schon aus diesem<br />
Grunde Übergriffe nicht auszuschließen<br />
sind. Dazu ein historisches Beispiel,<br />
das die Bedeutung einer allgemeinen Verbreitung<br />
der Texte unterstreicht: Während<br />
des Krieges von 1870 war das erste Genfer<br />
Abkommen so wenig bekannt, daß es während<br />
des Konfliktes kaum angewendet<br />
wurde. Nach Friedensschluß stellte man<br />
sich ernstlich die Frage, ob man nicht auf<br />
das Abkommen verzichten und das Rote<br />
Kreuz auflösen sollte. All dies, weil man die<br />
Texte nicht kannte'). Au ßerdem sind viele<br />
Artikel der Protokolle sehr biegsam und mit<br />
Einschränkungen versehen, so da ß selbst<br />
Juristen nicht leicht die richtige Interpreta-<br />
I) J. Pictet, Revue intemational da la Crobe Rouge 30<br />
(1979) 1<br />
tion finden. Das ist keineswegs zufällig.<br />
Aus manchen Bestimmungen, für die das<br />
IKRK einen fünfzeiligen Entwurf gefertigt<br />
hatte, wurde im Verlauf der Konferenz ein<br />
dreiseitiger Text. Jede Regierung, die im<br />
Ur-Wortlaut eine Gefahrwitterte, beharrte<br />
nämlich auf dem Einbau von Bremsen und<br />
Ausnahmeklauseln, auf die sie sich notfalls<br />
zurückziehen kann. Man hat diese Probleme<br />
durchaus erkannt und deshalb zur Unterstützung<br />
der militärischen Führer bei der<br />
Anwendung der Abkommen und des Protokolls<br />
Rechtsberater bei den Streitkräften<br />
vorgesehen.<br />
Solche Vorkehrungen sind jedoch überwiegend<br />
formaler Natur und berühren die<br />
eigentliche Kernfrage nicht. Das neue Zivilschutzvölkerrecht<br />
ist politisch anspruchsvoller,<br />
als es die älteren Abkommen waren.<br />
Es enthält nämlich nicht nur neue Elemente<br />
des Genfer Rechts, sondern entwickelt<br />
insbesondere auch das Haager Recht über<br />
Mittel und Methoden der Kriegsführung<br />
fort, indem es die Grenzen der ertaubten<br />
Kampfführung enger zieht. Artikel 35 des<br />
1. Protokolls verbietet Mittel oder Methoden<br />
der Kriegsführung, die "unnötige Verletzungen<br />
oder unnötige Leiden" verursachen<br />
oder der Natur "großflächige, lang andauernde<br />
und ernste Schäden" zufügen.<br />
Artikel 51 untersagt eine "unterschiedslose"<br />
Kriegsführung entsprechend einem im<br />
Kern alten Grundsatz: Krieg wird gegen<br />
Streitkräfte, nicht gegen die Zivilbevölkerung<br />
geführt. Als "unterschiedslos" gilt jeder<br />
Angriff, der sich nicht auf ein bestimmtes<br />
militärisches Ziel richtet oder aber Waffen<br />
oder Kampfmethoden benutzt, die sich<br />
nicht auf bestimmte militärische Ziele richten<br />
oder sich in ihrer Wirkung auf diese<br />
beschränken lassen. Mit diesen Regeln<br />
engt das neue Recht den Handlungsspielraum<br />
militärischer Führer ein. Es erschwert<br />
die Kriegsführung. Darin liegt sein Fortschritt,<br />
aber auch eine Gefahr, denn Vorschriften<br />
zugunsten der "Humanisierung"<br />
des Krieges werden, wenn sie zu strikt<br />
ausfallen, im Krieg von höheren Notwendigkeiten<br />
der Verteidigung überwältigt und<br />
mißachtet.<br />
Ungeachtet aller Skepsis sind die Protokolle<br />
aber keineswegs überflüssig. Ihre Bedeutung<br />
gewinnen sie zunächst einmal<br />
durch das Bestreben , mittels übereinstimmender<br />
Erklärung möglichst vieler Staaten<br />
der Welt festzulegen, was im Kriege Recht<br />
und was Unrecht ist, damit ieder sein Verhalten<br />
danach einrichten und das der anderen<br />
daran messen kann. Die Erfahrung<br />
hat ferner gezeigt, daß ungeachtet einzelner<br />
oder auch gehäufter Verstöße, die<br />
immer wieder vorkommen, es doch immer<br />
wieder gelungen ist, durch völkerrechtliche<br />
Vereinbarungen die Brutalilät des Krieges<br />
im Rahmen des Möglichen einzuschränken.<br />
Allein die Teilnahme von zeitweise bis zu<br />
124 Staaten an der Diplomatischen Konferenz<br />
zeigt doch den Willen der Staaten,<br />
sich bestimmten Regeln im Kriege zu unterwerfen.<br />
Neue Akzente<br />
durch die Dritte Welt<br />
Mehr als alle früheren war die Konferenz<br />
von 1974n 7 politisch bestimmt. Die Dominanz<br />
der Politik ergab sich bereits aus<br />
einer völlig veränderten Zusammensetzung<br />
des Konferenzkörpers. Die erste<br />
Genfer Konvention war 1864 durch eine<br />
Konferenz von 16 europäischen Staaten<br />
beschlossen worden. Auch 1949 noch, als<br />
die geltenden Genfer Konventionen entstanden,<br />
spielte sich die Diplomatische<br />
Konferenz mit 63 Teilnehmerstaaten in einem<br />
traditionellen, von Europa beherrschten<br />
Rahmen ab; nur je zwei afrikanische<br />
und asiatische Staaten waren damals beteiligt.<br />
1974 nun beherrschte unübersehbar<br />
die Dritte Welt das Feld. Weitgehend<br />
aus dem Dekolonialisierungsprozeß hervorgegangen,<br />
ergriff sie leidenschaftlich<br />
Partei für die verschiedenen Befreiungsbewegungen<br />
und setzte deren Teilnahme an<br />
den Beratungen durch.<br />
Für die Dritte Welt waren und sind dabei<br />
vor allem zwei Anliegen wesentlich:<br />
• die Aufwertung des sogenannten nationalen<br />
Befreiungskampfes durch Anerkennung<br />
als internationaler Konflikt und<br />
• die Abwehr jeder Bedrohung staatlicher<br />
Souveränität, die darin gesehen wird ,<br />
daß staatlicher Macht im Innem völkerrechtliche<br />
Grenzen gesetzt werden .<br />
Der nationale Befreiungskampf und der<br />
Bürgerkrieg, also der innerstaatliche bewaffnete<br />
Konflikt: dies waren die zwei<br />
Grundsatzprobleme der Konferenz.<br />
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