Psychotherapeutenjournal 2/2011 - medhochzwei Verlag GmbH
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Selbsterfahrung in der modernen Verhaltenstherapieausbildung<br />
interaktionelles Handeln, es ist ein Geschehen,<br />
das zwischen mindestens zwei<br />
Personen stattfindet und bestimmten<br />
sozialen Inszenierungen folgt. Den einzelnen<br />
Menschen in seiner individuellen<br />
und sozialen Ganzheit zu sehen, ihn als<br />
Teil der sozialen und politischen Lebenswelt<br />
zu begreifen und die Psychotherapie<br />
an diesen Gegebenheiten zu orientieren,<br />
gehört zu den alltäglichen Erfahrungen der<br />
psychotherapeutischen Berufsausübung<br />
(vgl. z. B. Lieb, 2009). Das schließt Frustrationstoleranz<br />
ebenso ein wie die Fähigkeit<br />
auf Krisen zu reagieren und kreative<br />
Lösungen für Lebensprobleme zu finden.<br />
Hierauf muss Selbsterfahrung vorbereiten.<br />
Diese Überlegungen stehen in direktem<br />
Einklang mit dem Positionspapier der Bundespsychotherapeutenkammer,<br />
in dem die<br />
Kernkompetenzen von Psychotherapeutinnen<br />
und Psychotherapeuten definiert<br />
werden: Neben der fachlichen Kompetenz<br />
werden persönliche Kompetenzen, wie die<br />
Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik,<br />
zur Selbststeuerung eigener Affekte und zur<br />
Empathie gefordert. Zusätzlich betont das<br />
Positionspapier die Beziehungsfähigkeit als<br />
Kernkompetenz von Psychotherapeutinnen<br />
und -therapeuten; dazu werden Kommunikations-<br />
und Bindungsfähigkeit zur Etablierung,<br />
Aufrechterhaltung und Beendigung<br />
einer stabilen therapeutischen Beziehung<br />
ebenso verstanden, wie die Wahrung einer<br />
therapeutischen Neutralität und Abstinenz<br />
(BPtK, 2010).<br />
Ein integratives Selbsterfahrungsmodell<br />
Wir stellen uns die Frage: Was benötigen<br />
Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten,<br />
um kompetente und zufriedene Therapeutinnen<br />
und Therapeuten zu werden?<br />
Selbsterfahrung ist dabei zweifelsohne nur<br />
ein Bestandteil. Die im Folgenden aufgelisteten<br />
Punkte sind auch in den anderen<br />
Bausteinen der Ausbildung, etwa in den<br />
Theorieseminaren oder in der Supervision,<br />
wesentlich. In der Selbsterfahrung<br />
sollten sie zum unverrückbaren Kanon<br />
gehören und besonders die Selbstentfaltung<br />
der angehenden Therapeutinnen<br />
und Therapeuten in den Fokus nehmen.<br />
Die Selbsterfahrung ist der Ort, in dem die<br />
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Persönlichkeit der angehenden Psychotherapeutinnen<br />
und -therapeuten im Zentrum<br />
der Reflexion steht; sie bietet die Möglichkeit<br />
zur Selbsterkundung im Kontakt mit<br />
anderen, die in der gleichen Lebensphase<br />
sind und das gleiche Ziel vor Augen haben.<br />
Das hier vorgeschlagene und von den Autoren<br />
vielfach in der Praxis erprobte Selbsterfahrungskonzept<br />
enthält verschiedene<br />
Bausteine 1 , die sowohl in der Gruppe als<br />
auch im Einzelkontakt realisierbar sind.<br />
Wir plädieren dafür, die vom Gesetzgeber<br />
vorgesehenen 120 Stunden in einen<br />
größeren Teil der Selbsterfahrung in der<br />
Gruppe (ca. 100 Stunden) und einen entsprechend<br />
kleineren Teil an Einzelselbsterfahrung<br />
(zumindest in Kleingruppen) (ca.<br />
20 Stunden) aufzuteilen.<br />
1. Verwirklichung eines humanistischen<br />
Menschenbildes<br />
Hierzu zählen wir die Vermittlung eines<br />
Menschenbilds, das durch Wertschätzung,<br />
Empathie, die Fähigkeit zum Zuhören und<br />
die Stärkung der Kreativität ebenso gekennzeichnet<br />
ist wie durch Achtung der<br />
Würde und der Entscheidungsfreiheit des<br />
anderen und Mitgefühl für die Schwächen<br />
und das Leid. Wir sehen hierin ein übergeordnetes<br />
Ziel der Selbsterfahrung, das sich<br />
im konkreten Prozess der Gestaltung eines<br />
Selbsterfahrungsseminars auf verschiedene<br />
Weise realisieren lässt.<br />
In erster Linie dienen die Leiterinnen und<br />
Leiter der Selbsterfahrung als ein Modell.<br />
Das Seminar wird so gestaltet, dass<br />
Freundlichkeit und Respekt gegenüber<br />
den Teilnehmenden aktiv zum Ausdruck<br />
gebracht werden. Gerade zu Beginn, bei<br />
den ersten Selbsterfahrungseinheiten,<br />
wird die Gruppenselbsterfahrung von den<br />
Teilnehmenden häufig mit Ängstlichkeit<br />
gesehen. Befürchtungen, vor der Gruppe<br />
„vorgeführt“ zu werden, zähen, intransparenten<br />
Gruppenprozessen ausgeliefert zu<br />
sein, werden immer wieder berichtet. Es<br />
gilt demnach, durch die Gestaltung der<br />
Selbsterfahrung eine Haltung von Respekt<br />
und Achtung zu etablieren, die einerseits<br />
den Teilnehmenden die Angst nimmt und<br />
andererseits als eine generelle Haltung gegenüber<br />
Patientinnen und Patienten vermittelt<br />
wird. Auch das offene, konstruktive<br />
und zielbezogene Feedback durch die an-<br />
deren Teilnehmenden ist eine Möglichkeit,<br />
das eigene Handeln im Hinblick auf die<br />
Übereinstimmung mit einem humanistischen<br />
Menschenbild zu überprüfen.<br />
2. Biographiefokussierte<br />
Selbstreflexion<br />
Hierunter verstehen wir, dass der Reflexion<br />
der eigenen Biographie und damit der<br />
Bedingungen, die zur Entwicklung von persönlichen<br />
Schemata, Reaktionsmustern etc.<br />
geführt haben, Raum gegeben wird. Die<br />
eigene Biographie wird nach unserem Verständnis<br />
als eine Ressource aufgefasst, die<br />
Nützliches für das therapeutische Handeln<br />
birgt. Das Erkunden der eigenen Bindungs-<br />
und Konflikterfahrungen kann gerade in<br />
der Gruppenselbsterfahrung zu wertvollen<br />
Erkenntnissen führen, die zu einer erweiterten<br />
therapeutischen Kompetenz beitragen.<br />
Durch die Berücksichtigung der eigenen<br />
Lebens- und Lerngeschichte soll es den<br />
Auszubildenden ermöglicht werden, eigene<br />
Handlungsmuster zu erkennen und zu<br />
verändern. Bei dem Prozess der Veränderung<br />
können lerntheoretische Methoden<br />
hilfreich eingesetzt werden.<br />
Auch hier kommt seitens der leitenden<br />
Personen dem achtsamen Umgang mit<br />
den Teilnehmenden, der wertschätzenden,<br />
lösungsorientierten Haltung große<br />
Bedeutung zu. Die Teilnehmenden erfahren,<br />
wie schmerzlich und schwer es sein<br />
kann, über leidvolle Erlebnisse zu berichten<br />
und wie hilfreich die Erfahrung des<br />
Verstandenwerdens, der Achtung und des<br />
Respekts sein kann.<br />
Die Methoden, die angewendet werden<br />
können, um diesen Baustein der Selbsterfahrung<br />
optimal zu realisieren, sind vielfältig.<br />
Sie reichen von dyadischen Aufgabenstellungen<br />
– etwa zur Erstellung eines<br />
Genogramms (vgl. McGoldrick & Gerson,<br />
2000) – bis hin zur Kleingruppenarbeit<br />
mit bestimmten strukturierten Aufgaben<br />
– etwa zur Durchführung einer ausführlichen<br />
Plananalyse zu bestimmten Problembereichen<br />
oder zur Analyse bewältigter<br />
Lebenskrisen, um nur einige Beispiele zu<br />
1 Diese Bausteine stellen keine Unterrichtseinheiten<br />
dar; vielmehr sind es konzeptuelle<br />
Überlegungen, die erst in Unterrichtseinheiten<br />
zu transformieren sind.<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2011</strong>