Psychotherapeutenjournal 2/2011 - medhochzwei Verlag GmbH
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Aus dem Blickwinkel der Gestalttherapie<br />
ist sie kein anderes Verfahren bei Erwachsenen,<br />
bei Senioren, bei Jugendlichen<br />
oder Kindern, sie trägt von vornherein<br />
den altersphasenabhängigen Bedürfnissen<br />
Rechnung. Gestalttherapie ist kein<br />
starres Konzept, sondern genau das Gegenteil.<br />
Sie bedarf daher auch nicht für<br />
jede Lebensphase getrennter Wirknachweise.<br />
Aber sie bedarf einer sehr sorgfältigen<br />
Schulung.<br />
Grundsätzlich ist das therapeutische Verständnis<br />
sokratisch: Der Patient ist sein<br />
eigener Experte, niemand kennt sich in<br />
seiner subjektiven Welt mit ihren biographisch<br />
bedingten, spezifisch assoziierten<br />
Vernetzungen besser aus als er. Das Interesse<br />
des Therapeuten ermutigt ihn hinzusehen.<br />
Der Therapeut ist ein sokratischer<br />
Katalysator. Er stellt seine am Phänomen<br />
orientierten Beobachtungen als Stimulation<br />
zur Verfügung, das verborgene Wissen<br />
des Patienten zu heben und dabei seine<br />
persönlichen, passgenauen Selbstdeutungen<br />
zu finden. Vom Therapeuten wird<br />
Anpassungs- und Korrekturfähigkeit erwartet.<br />
Der Therapeut dient der individuellen<br />
Erkenntnissuche des Patienten; der<br />
Patient ist nicht dazu da, die Hypothesen<br />
des Therapeuten zu stützen.<br />
Fazit: Klassische Fremddeutungen werden<br />
in der Gestalttherapie als Übergriffe angesehen.<br />
Dagegen wird eine im Sinne eines<br />
sokratischen Prozesses gemeinsam erarbeitete,<br />
konsensuelle Wahrheitsfindung,<br />
bei der die Deutungshoheit beim Patienten<br />
verbleibt, angestrebt.<br />
Methodik<br />
Die Gestalttherapie ist besonders ergiebig,<br />
wenn sie zwischen nonverbalen und<br />
verbalen Ausdrucksebenen oszillieren<br />
kann. Sie kann mit körpertherapeutischem<br />
Schwerpunkt im Medium Bewegung<br />
praktiziert werden oder auch mit Hilfe<br />
von „kreativen Medien“ (Malen, Tonen,<br />
Maskenarbeit, Tönen und Klangerzeugen<br />
etc.) und/oder mit dem Schwerpunkt intrapsychisches<br />
Rollenspiel, Skulptur-, gestalttherapeutische<br />
Familienaufstellung,<br />
therapeutisches Märchenspiel (Märchen<br />
als Projektionsmatrix) und Stegreiftheater<br />
etc. Die „Medien“ selbst dienen nur<br />
als technische Vehikel, als Einladung zur<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2011</strong><br />
Projektion der inneren Strukturen. Sie sind<br />
austauschbar.<br />
Jeder Gestalttherapeut ist gehalten, sich in<br />
mindestens einem (meist in mehreren)<br />
nonverbalen Medium genauso zuhause<br />
zu fühlen wie auf der verbalen Ebene,<br />
sodass er mit ihm aktiv umgehen kann<br />
– sie sind ein ständiger Bestandteil der<br />
„Haupttherapie“. Sie machen einen Teil<br />
der Lebendigkeit der Gestalttherapie aus<br />
und bieten viele Chancen für erfahrungsorientierte<br />
Prozessarbeit. Der spontane,<br />
nonverbale Ausdruck unterliegt im Allgemeinen<br />
weniger den üblichen Abwehr-<br />
und Kontrollmechanismen.<br />
Beim Delegieren an nachgeordnete<br />
„Kreativtherapeuten“, wie es in fast allen<br />
Kliniken üblich ist, werden ganz viele<br />
therapeutische Bearbeitungs- und Verwandlungschancen<br />
ungenutzt verschenkt.<br />
Zum Umkreis der zentrierenden Körperwahrnehmungsübungen<br />
gehören alle<br />
medidativen Achtsamkeitsübungen in<br />
Ruhe oder in Bewegungsfolgen. Sie sind<br />
in verschiedenen Variationen Bestandteil<br />
von vor allem stabilisierenden, strukturaufbauenden<br />
und krisenbewältigenden Angeboten.<br />
Oft dienen als Projektionsflächen leere<br />
Stühle. Es ist leicht, sich darauf Menschen<br />
vorzustellen. Manche meinen irrtümlicherweise<br />
die Gestalttherapie auf diese<br />
Technik des Stühlerückens reduzieren zu<br />
können. Projizieren geht aber auch ohne<br />
Stühle.<br />
Gestalttherapie lässt sich auch völlig ohne<br />
Medien durchführen. Fritz Perls Kurzformel<br />
über die Gestalttherapie: „Here and<br />
Now – I and Thou“, benötigt lediglich<br />
Achtsamkeit und eine Beziehung nach innen<br />
und außen.<br />
Im Gruppenfeld können alle interaktiven,<br />
sozial-kommunikativen Manifestationen<br />
genutzt werden, besonders, wenn sie<br />
diskrepant zu anderweitigen Äußerungen<br />
der gleichen Person erscheinen.<br />
Typischerweise versucht die heutige gestalttypische<br />
Gruppenarbeit eine Balance<br />
zwischen gruppendynamischen Interak-<br />
L. Hartmann-Kottek<br />
tionssequenzen und Einzelarbeiten zu<br />
finden, wobei sich Dynamik und Thema<br />
des einen wie des anderen wechselseitig<br />
befruchten. (Die Kette von Einzelarbeiten<br />
in der Gruppe, bei der letztere am Ende<br />
jeder Einzelarbeit wie ein „griechischer<br />
Chor“ fungiert, gehört als historische Form<br />
der 40er bis 60er Jahre nur noch der Geschichte<br />
der Gestalttherapie an.)<br />
Eine für die Gestalttherapie zentrale Methode<br />
ist die der systematischen Identifikation<br />
mit allen Vordergrundgestalten<br />
(z. B. mit Teilen einer Zeichnung), inklusive<br />
der Identifikation mit dem „fehlenden<br />
Teil“ der gesuchten Lösung, wenn es eine<br />
gibt – diese Identifikationsmethode fördert<br />
Empathie. Sie übt, die Welt mit den Augen<br />
des anderen zu sehen, mit dem Herzen<br />
des anderen zu fühlen und aus der Integration<br />
all dieser Sichtweisen einen neuen<br />
Standpunkt zu finden.<br />
Es handelt sich insgesamt um ein ganzheitliches<br />
(i. S. von emotional und kognitives)<br />
vernetzendes Bewusstwerdungsziel, das<br />
über das rein kognitive Mentalisierungskonzept<br />
hinausgeht (!). Es verlangt ständig<br />
eine reifungsfördernde Integrationsleistung.<br />
Diese Einübung der „Reihum-Identifikation“<br />
mit allen bedeutsamen Aspekten<br />
übersteigt auch das eher verbal-kognitive<br />
„zirkuläre Abfragen“ der Systemischen<br />
Therapie, weil die gestalttherapeutische<br />
Form stärker im Erleben, der existentiellen<br />
Daseinsberechtigung, der Bedürfnisebene<br />
bis hin zur Sinnsuche verankert ist – sie ist<br />
aber mit jenem Ansatz grundsätzlich verwandt.<br />
Traumarbeit: Sie fokussiert sowohl auf die<br />
Beziehungsebene wie auf das subjektstufige<br />
Niveau (ein Erbe der Psychoanalyse)<br />
und arbeitet<br />
1. mit der oben geschilderten Identifikationstechnik,<br />
2. mit der Selbstinterpretation, wie auch<br />
3. mit der Verantwortungsübernahme für<br />
die unbewusste Gesamtregie in der<br />
Rolle als „Drehbuchautor“.<br />
Das gestalttherapeutische „Experiment“<br />
lädt – wie im freien Spiel – zu Assoziationen<br />
und Projektionen auf allen Sinneskanälen<br />
und mit dem ganzen leiblichen<br />
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