Psychotherapeutenjournal 2/2011 - medhochzwei Verlag GmbH
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dards nicht beachtet, bestehe<br />
die Gefahr, dass objektive Befunde<br />
übersehen würden und<br />
die Therapie zum Nachteil des<br />
Patienten bereits zu Beginn<br />
in die falsche Richtung führe,<br />
weshalb Almer einer Internettherapie<br />
ohne vorherigem<br />
persönlichen Kontakt eine<br />
Absage erteilt (Almer, 2008,<br />
S. 16). Wagner und Maerker<br />
(<strong>2011</strong>) heben für die internetbasierte<br />
Psychotherapie die<br />
zentrale Bedeutung strenger<br />
Ausschlusskriterien hervor. Zur<br />
Gewährleistung dieser Ausschlusskriterien,<br />
insbesondere<br />
Drogenabusus, schwere Depression<br />
und ernsthafte Suizidgefährdung<br />
und zu deren<br />
vollständiger und sicherer Diagnostik<br />
ist nach Auskunft von<br />
Fachleuten der unmittelbare<br />
persönliche Kontakt unverzichtbar.<br />
Zur Stellung der Indikation<br />
gehört aufgrund der gesetzlichen<br />
Regelung des § 1 Abs. 3<br />
PsychThG die Pflicht zur somatischen<br />
Abklärung. Zu den<br />
Standards zählen weiter die<br />
Unterlassung nicht angezeigter<br />
therapeutischer Behandlungen<br />
(Gründel, 2000, S. 130;<br />
Kern, 2010, S. 664) sowie eine<br />
positive Prognose für den<br />
gewählten Behandlungsansatz.<br />
Daran knüpft sich zunächst die<br />
Frage, ob bei den bekannten<br />
Ansätzen von Fernbehandlungen<br />
überhaupt eine somatische<br />
Abklärung stattfindet bzw. ob<br />
und wie eine solche Abklärung<br />
organisiert werden könnte. Darüber<br />
hinaus könnten Zweifel<br />
bestehen, ob die Möglichkeiten<br />
einer Ferndiagnostik zureichende<br />
Grundlage einer fachgerechten<br />
Indikation sein können. Zur<br />
Stellung einer positiven Prognose<br />
ist es erforderlich, die<br />
Motivation des Patienten/der<br />
Patientin beurteilen zu können.<br />
Ist das unter den Bedingungen<br />
der „Kanalreduktion“ möglich?<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2011</strong><br />
Zur Aufklärung gehört nach der<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
die Information<br />
des Patienten über die<br />
Diagnose, das Behandlungsziel,<br />
die beabsichtigte Therapie<br />
und die bestehenden Risiken<br />
(BVerfG NJW 1979, 1925). Das<br />
„Wie“ steht im pflichtgemäßen<br />
Beurteilungsermessen des<br />
Behandlers (BGH NJW 1984,<br />
1397), er hat im „Großen und<br />
Ganzen“ aufzuklären (BGH<br />
NJW 2000, 1786). Der Patient<br />
ist in die Lage zu versetzen,<br />
das Wesen, die Bedeutung,<br />
die Risiken und Dauer sowie<br />
die Erfolgsaussichten der<br />
Therapie in den Grundzügen<br />
zu erfassen (Gründel, 2000,<br />
S. 87). Aufklärungspflichtig ist<br />
im Regelfall jeder Behandler<br />
für die Behandlungsaufgabe,<br />
die er durchführt (Steffen &<br />
Pauge, 2010, Rz. 504 ff, mit<br />
weiteren Nachweisen), d. h.<br />
der eigenverantwortlich tätige<br />
Psychotherapeut (Gründel,<br />
2000, S. 75). Die Rechtsprechung<br />
tritt nachdrücklich für<br />
die mündliche Information im<br />
persönlichen Gespräch ein,<br />
die alleinige Überreichung eines<br />
Merkblattes genüge nicht<br />
den Anforderungen (BGH NJW<br />
1994, 793; BGH NJW 2000,<br />
1784). Merkblättern fehle die<br />
Ausrichtung auf den individuellen<br />
Fall, zum anderen könne<br />
nur im Gespräch festgestellt<br />
werden, ob der Patient die<br />
ihm vermittelten Informationen<br />
verstanden hat (BGH NJW<br />
1985, 1399). Laufs formuliert:<br />
„Mitmenschliche Zuwendung<br />
und Gemeinschaft braucht das<br />
Wort. Arzt und Patient müssen<br />
einander zuhören und sich<br />
wechselseitig mitteilen… Der<br />
moderne Medizinbetrieb gefährdet<br />
und verkürzt das notwendige<br />
Gespräch zwischen<br />
Arzt und Patient“ (Laufs, 2010,<br />
S. 705). Gründel argumentiert<br />
damit, dass das persönliche<br />
und einfühlsame Gespräch zu<br />
den Grundpflichten des Therapeuten<br />
gehöre und – im<br />
Gegensatz zum zeitlich überforderten<br />
Arzt – keinen Einschränkungen<br />
und Praktikabilitätserwägungen<br />
unterliegen<br />
dürfe (Gründel, 2000, S. 73).<br />
Fernaufklärungen sind deshalb<br />
in ihrer jeweiligen Form darauf<br />
zu hinterfragen, ob eine sachgerechte,<br />
aufklärende Kommunikation<br />
möglich ist, insbesondere<br />
ob eine Ausrichtung auf<br />
den individuellen Fall erfolgen<br />
kann. Zweifel sind angebracht,<br />
ob der Behandler in die Lage<br />
versetzt wird festzustellen, ob<br />
der Patient die Aufklärung angemessen<br />
„versteht“.<br />
Zu den fachlich unabdingbaren<br />
Standards gehört eine ausreichende<br />
Überwachung und<br />
Kontrolle des Therapieverlaufs<br />
(Gründel, 2000, S. 135, mit<br />
weiteren Nachweisen; Almer,<br />
2008, S. 16). Dazu zählt einerseits<br />
die Erfolgskontrolle, die<br />
u. a. auch die Korrektur unrealistischer<br />
und unerreichbarer<br />
Therapieziele ermöglichen soll<br />
(Gründel, 2000). Andererseits<br />
trifft den Psychotherapeuten<br />
die Pflicht, Selbstschädigungen<br />
des Patienten zu verhindern.<br />
Insofern könnten die besonderen<br />
Bedingungen einer Fernbehandlung<br />
die Gefahr bergen,<br />
dass Symptome übersehen<br />
oder unterschätzt werden. Almer<br />
fordert, dass im Falle von<br />
Fernbehandlungen der Therapeut<br />
seinen Posteingang engmaschig<br />
überwachen muss,<br />
damit E-Mails nicht ungelesen<br />
liegen bleiben (Almer, 2008).<br />
Aus fachlicher Sicht wäre zu<br />
fragen, ob der Therapieverlauf<br />
ohne persönlichen Kontakt<br />
zureichend beurteilt werden<br />
kann und ob auf einen bevorstehenden<br />
Suizid deutende<br />
Symptome bzw. verheimlichte<br />
gravierende Verschlechterungen<br />
ohne persönlichen Kon-<br />
J. Rautschka-Rücker<br />
takt wahrgenommen werden<br />
können.<br />
Das Berufsrecht setzt sich auf<br />
unterschiedliche Weise mit<br />
Fernbehandlungen auseinander.<br />
In § 5 Abs. 5 der Musterberufsordnung<br />
der Bundespsychotherapeutenkammer<br />
heißt es: „Psychotherapeuten<br />
erbringen psychotherapeutische<br />
Behandlungen im persönlichen<br />
Kontakt. Sie dürfen<br />
diese über elektronische<br />
Kommunikationsmedien nur<br />
in begründeten Ausnahmefällen<br />
und unter Beachtung<br />
besonderer Sorgfaltspflichten<br />
durchführen.“ In § 7 Abs. 3 der<br />
Musterberufsordnung der Bundesärztekammer<br />
findet sich<br />
folgende Regelung: „Ärztinnen<br />
und Ärzte dürfen individuelle<br />
ärztliche Behandlung, insbesondere<br />
auch Beratung, weder<br />
ausschließlich brieflich noch<br />
in Zeitungen oder Zeitschriften<br />
noch ausschließlich über<br />
Kommunikationsmedien oder<br />
Computerkommunikationsnetze<br />
durchführen.“<br />
Wenn man sich die Berufsordnungen<br />
der Landespsychotherapeutenkammern<br />
anschaut,<br />
wird man eine noch darüber<br />
hinausgehende Bandbreite an<br />
Ansätzen finden. Gemeinsam<br />
ist allen, dass sie die hier angesprochenen<br />
Problemfelder<br />
– hingewiesen sei hier nur auf<br />
die Diagnostik – nicht zielgenau<br />
treffen. Meines Erachtens<br />
ist das Berufsrecht insoweit einerseitsverbesserungsbedürftig<br />
und anderseits auch verbesserungsfähig.<br />
Wenn man<br />
sich allerdings die Vielgestaltigkeit<br />
möglicher Behandlungsansätze<br />
und -konstellationen<br />
vor Augen führt, halte ich das<br />
Berufsrecht allein für überfordert,<br />
allen Herausforderungen<br />
gerecht werden zu können. Es<br />
würde der Entwicklung doch<br />
immer hinterherhinken, selbst<br />
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