38 dES kAISERS NEUE klEIdER das familienstück zu Weihnachten / 5+ von Hans christian Andersen (1805–1875) in einer Adaption von fabian Sattler und Annette Pfisterer Premiere: 01. dezember <strong>2012</strong>, Stadthalle – Erwin-Piscator-Haus Regie: fabian Sattler Weder der Konsum, noch der Wunsch, sich um die eigene sichtbare Oberfläche zu kümmern, sind an sich ›schlecht‹ oder ›böse‹. Doch bleibt die Frage, wann zu viel Schein dem Sein im Wege steht und wann man ›Wahrheiten‹ hinterfragen muss, wenn man nicht zuletzt ohne Hosen dastehen will. Man stelle sich vor: Ein Kaiser mit dem unbändigen Wunsch zu gefallen, zwei gewitzte Betrüger und ein ganzer Hofstaat, der sich nicht traut, die offensichtliche Wahrheit auszusprechen. Hans Christian Andersens Kunstmärchen »Des Kaisers neue Kleider« von 1837 zählt zu seinen bekanntesten Texten. Es erzählt von einem Kaiser, der seine ganze Aufmerksamkeit seiner Garderobe und seinem Äußeren widmet. So fällt es zwei Gaunern, die sich als Weber ausgeben, nicht schwer, eine lukrative Anstellung an seinem Hofe zu ergattern. Nach und nach werden alle Minister und Diener des Kaisers zu Opfern – nicht nur der Betrüger, sondern auch ihrer eigenen Unsicherheit und Gefallsucht. Der besondere Clou ihrer Kreationen sei nämlich, so die vermeintlichen Weber, dass sie für denjenigen unsichtbar seien, der seines Amtes unfähig oder dumm sei. Auch wenn niemand die angeblich so sagenhaften Stoffe sehen kann, wagt es daher keiner, diese Wahrheit auszusprechen, um nicht als dumm oder unfähig zu gelten. Aus Angst zu versagen oder dem Druck der öffentlichen Meinung nicht zu genügen, verstricken sich alle Beteiligten mehr und mehr in einem Netz aus Lügen und Heuchelei, während der drohende erste öffentliche Auftritt des Kaisers in seinen ›neuen Kleidern‹ immer näher rückt. Am Ende steht ein Staatsoberhaupt blamiert vor seinem Volk: zwar nicht bis auf die Knochen, aber bis auf die Unterhose. Andersens Geschichte stellt Kindern und Erwachsenen die Frage, wie sehr man sich Moden und Autoritäten unterwerfen sollte. Vertraut man der eigenen Wahrnehmung oder ordnet man sich dem allgemeinen Konsens unter? Hat die Mehrheit automatisch recht? Das Märchen zeigt, dass Macht und Autorität nichts Natürliches sind, sondern auf einer stillschweigend akzeptierten kollektiven Verabredung beruhen. Aus heutiger Sicht interessiert dabei speziell die Frage nach der Verabredung innerhalb unserer Konsumgesellschaft, immer neue Produkte hervorbringen zu müssen, die ältere Modelle teils lediglich ästhetisch ›verbessern‹. Ist das die große Leistung unserer Kultur? Oder ist es im Gegenteil die Krankheit, die unsere Wegwerfgesellschaft hervorgebracht hat? Sind wir alle genauso dem Rausch des Neuen verfallen wie der Kaiser seiner Sucht nach einer immer neueren und großartigeren Selbstinszenierung? Kritikerinnen und Kritiker beklagen gerade die Rolle der Kinder in diesen Prozessen: Die Wirt- schaft hat die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft längst als Goldgrube geortet; sie schätzt ihre Neugierde, Aufgeschlossenheit und Unbeirrbarkeit […] Sie geben – Krise hin oder her – aus, ohne nachzurechnen und ohne penibel Buch zu führen. (Melissa Müller, »Die kleinen Könige der Warenwelt. Kinder im Visier der Werbung.«, 1997)
franziska knetsch