Kontakt 36 - Dominikaner
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Predigt<br />
einander und sich selbst fremd geworden<br />
sind. „Ich fühle mich wie ein<br />
Mensch, den ich einmal gut gekannt,<br />
aber dann aus den Augen verloren<br />
habe“, so stellt eine Frau gegen Ende<br />
ernüchtert fest.<br />
Warum erzähle ich Ihnen das an diesem<br />
Fest? Sicher nicht, um Ihnen diese<br />
Tage zu verderben. Auch nicht, um<br />
Sie zu bewegen, zu Hause alle Kosmetika<br />
aus dem Spiegelschrank zu<br />
räumen und Ihre besten Kleidungsstücke<br />
in die Sammlung zu geben. Ich<br />
erzähle es, weil es viel mit Weihnachten<br />
zu tun hat. Denn dieses Fest zeigt<br />
uns noch einen anderen Weg.<br />
Auch Weihnachten soll schön sein.<br />
Auch dafür tun wir einiges. Wenn<br />
man aber einmal genauer hinschaut,<br />
dann ist gerade Weihnachten nichts<br />
weniger als ein Fest der Schönheit<br />
oder gar der Perfektion. Die Frage<br />
„Bin ich schön?“ muss angesichts<br />
einer Szene wie in Bethlehem verstummen.<br />
Denn da ist nichts schön:<br />
Ein dürftiger Stall, ein Säugling in<br />
einem Futtertrog, eine unverheiratete<br />
Mutter, ein Provinznest. Nicht<br />
großartig oder gefällig geht es hier<br />
zu, sondern armselig und bescheiden.<br />
Der kleine König im Stall ist<br />
der große Einspruch gegen unser<br />
Bild von Schönheit. Oder, anders<br />
gesagt: Er kann unsere Vorstellung<br />
von Schönheit verwandeln.<br />
Wie er das macht, haben wir im Glorialied<br />
mit den Worten besungen:<br />
Entäußert sich all seiner Gewalt,<br />
wird niedrig und gering<br />
und nimmt an eines Knechts Gestalt,<br />
der Schöpfer aller Ding.<br />
Dieses Lied beschreibt einen Gott,<br />
der nicht um sich selbst kreist, son-<br />
32<br />
dern sich entäußert. Das klingt zwar<br />
arg theoretisch, aber es heißt nichts<br />
anderes, als dass dieser Gott sich<br />
nicht selbst genügt. Er begibt sich<br />
vielmehr auf die Suche nach den<br />
Menschen, auf die Suche auch nach<br />
mir. Und er meint es damit so ernst,<br />
dass er selbst einer von uns wird.<br />
Dieser Gott ist sich nicht zu schade,<br />
für uns Menschen auf die Knie zu<br />
gehen, und zwar bis zur letzten Konsequenz,<br />
wenn er am Ende unter der<br />
Last des Kreuzes buchstäblich in die<br />
Knie geht. Ich halte nicht viel von<br />
Liebensbeweisen, aber wenn es einen<br />
gibt, dann diesen.<br />
Die Schönheit, die uns an Weihnachten<br />
gezeigt wird, ist also kein äußerer<br />
Glanz, sondern sie geht tiefer. Sie<br />
liegt in der Beziehung, die Gott mit<br />
uns eingeht: Der Gott, von dem der<br />
<strong>Dominikaner</strong>mystiker Meister Eckhart<br />
sagt, „dass er mir näher ist als ich<br />
mir selbst bin“. Wenn Gott so klein<br />
wird, dann brauche ich mich selbst<br />
nicht mehr groß zu machen. Wenn<br />
Gott mir zeigt, dass ich so wichtig für<br />
ihn bin, dann brauche ich mich selbst<br />
nicht mehr wichtig machen. Wenn<br />
ich in den Augen Gottes Schönheit<br />
habe, dann brauche ich mich nicht<br />
darum zu sorgen, dass ich attraktiv<br />
genug bin.<br />
Dazu befreit uns das Weihnachtsfest:<br />
Es lehrt uns, uns selbst und einander<br />
mit neuen Augen anzusehen – mit<br />
Augen, die bei aller Vergänglichkeit<br />
die Schönheit und Würde sehen<br />
können, die schon in uns liegt, eine<br />
Schönheit und Würde, die wir nicht<br />
selbst machen müssen und die unzerstörbar<br />
ist, weil sie von Gott selbst<br />
kommt.<br />
Zugleich lehrt uns dieses Fest den<br />
Respekt vor dem Unvollkommenen,<br />
dem Unfertigen in uns und in anderen.<br />
Dafür kann unser Baum hier ein<br />
Symbol sein. Denn im Unfertigen<br />
wird Gott selbst sichtbar. So wie<br />
damals in der armseligen Behausung<br />
am Rand von Bethlehem.<br />
Wir nennen Weihnachten auch das<br />
„Fest der Liebe“, und das ist richtig<br />
so. Denn wenn ich jemanden liebe,<br />
dann heißt das: ich erwarte kein<br />
Höchstmaß an Attraktivität und<br />
erst recht keine Perfektion, sondern<br />
ich nehme den anderen an, so wie er<br />
ist. Wenn Gott selbst Mensch wird,<br />
ein Kind im Stall, dann zeigt er uns<br />
damit, dass er uns auf diese Weise<br />
liebt – so wie wir sind, und nicht so,<br />
wie es andere von uns erwarten. Auch<br />
nicht so, wie wir selbst sein möchten.<br />
Nein, so wie wir sind. Gott hat eben<br />
andere Maßstäbe als unsere Umwelt.<br />
Wir müssen nur den Mut haben, uns<br />
von falschen Erwartungen zu lösen -<br />
von eigenen wie von fremden.<br />
Dietrich Bonhoeffer hat diese Bedeutung<br />
von Weihnachten einmal mit<br />
Worten ausgedrückt, die am Ende<br />
stehen sollen:<br />
Wo die Menschen sagen verloren,<br />
da sagt er gefunden;<br />
wo die Menschen sagen gerichtet,<br />
da sagt er gerettet;<br />
wo die Menschen sagen nein,<br />
da sagt er ja.<br />
Fr. Johannes Witte ist Prior<br />
des Braunschweiger Konvents<br />
und arbeitet als Krankenhausseelsorger.