15. MainzerMedienDisput vom 25. November 2010.pdf - Talk-Republik
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Journalisten sind Götter<br />
Eröffnungs-Rede von Christian Bommarius, Berliner Zeitung<br />
Übrigens sind wir sterblich. Obwohl wir doch Götter sind. Dass wir Götter sind, wissen<br />
wir schon lange. Wir wissen es seit dem Tag, an dem der Leipziger Drucker und<br />
Buchhändler Timotheus Ritzsch die erste Tageszeitung der Welt auf den Markt warf,<br />
seit dem 1. Juli 1650, also seit 360 Jahren. Ritzschs „Einkommende Zeitungen“ erschien<br />
sechs mal wöchentlich, Auflage 200 Exemplare. Erschien? Bücher werden publiziert,<br />
Urteile verkündet, Schauspiele, Opern oder Liederabende werden aufgeführt,<br />
aber Tageszeitungen: ERSCHEINEN. Bis zum 1. Juli 1650 erschienen den Menschen<br />
nur Sonne und Sterne, Fürsten und Könige von Zeit zu Zeit vor ihren Völkern, schon<br />
seltener „Gott und seine Engel in Blitz, Licht und Glanz“ (Grimms Wörterbuch).<br />
Nun aber erschien Ritzschs Tageszeitung über Leipzig, ging sechsmal wöchentlich<br />
morgens auf und abends wieder unter und mit ihr die Welt, wie Ritzsch sie schuf. Es<br />
war die Welt, wie sie noch heute weltweit in allen Zeitungen steht, die Welt der „Neueinlauffenden<br />
Nachrichten von Kriegs- und Welt-Händeln“. Jeden Tag eine neue Welt,<br />
sechs mal in der Woche, Welt-Schöpfung im 24-Stunden-Takt. Was für eine Leistung.<br />
Die Bibel kennt nur eine Schöpfung, die dauerte sechs Tage, dann war und ist bis<br />
heute Feierabend. Anders Ritzsch, anders seine Nachfolger in den späteren Jahrhunderten,<br />
anders die Scribenten, das Schreiberpack, die Spulwürmer des Geistes,<br />
die Moderatoren, die Korrespondenten, die Kommentatoren, die Journalisten, also<br />
wir, die wir teilhaben an diesem täglichen, seit einigen Jahren stündlichen, inzwischen<br />
sogar ununter brochenen Schöpfungswerk, wir – SCHÖPFUNGSGÖTTER. Dass wir<br />
Götter sind, steht außer Frage. Wer daran zweifelt – ganz sicher niemand hier im<br />
Saal – , ist entweder Troglodyt, aber die gibt es nicht mehr, oder Medienkritiker, die<br />
es zwar gibt, die aber niemand braucht. Gäbe es nicht die Welt, wie wir sie unentwegt<br />
schöpfen, dann wären wir arbeitslos. Aber gäbe es uns nicht, dann gäbe es keine Welt,<br />
keine Terrorwarnungen und keine Terrorattentate, keine Serienmorde, keine Sex-<br />
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